5
Okt

5.10.2002

27.9. – Der Freitag war ein verregneter Tag. Doch regenfreie Stunden hatte er. Vormittags verließ ich das Haus der Doctores, wartete vor ihm auf das Taxi, das ich vom sehr großen Wohnraum aus, als ich durch eines der Fenster zur Straße hinausgeblickt hatte, vorne an der Straße hatte heranfahren sehen; ich stand vor dem Haus und wartete darauf, daß das Taxi, dessen Fahrer sich offenkundig nicht in Warthausen auskannte, wieder von seiner kleinen Suchfahrt um diese Straße herum zurückkam. Es dauerte auch nicht lange. Ich stieg ein und gab die Adresse der Arndts in Schemmerhofen an. (Ein Dorf nördlich von Warthausen, in dem in der vorletzten Bundestagswahl unverhältnismäßig viele Einwohner braune Kleinparteien gewählt hatten.) Mit Schmidt, Manfred, war ich einige Male vor ein paar Jahren dort gewesen; nun wies ich den Taxifahrer an, schon vor dem Dorf nach rechts in eine Straße einzubiegen, die sich als die falsche herausstellte. In einiger Entfernung sah ich eine Häuserfront, die mir die richtige zu sein schien, „da vorn ist es, fahren Sie weiter“, waren meine Worte an den Fahrer, einen älteren bäuerlichen Typ, der murmelte, dort sei aber nicht die angegebene Straße. Er fuhr weiter, ich dirigierte ihn in eine sich sacht abneigende Straße hinein, die neben dem südlichen Ortsrand entlangführt, vors Arndt`sche Haus ganz unten am Ende der Straße, bezahlte achtzehn Euro – ein stolzes Entgelt für eine gar nicht sehr weite Fahrt, mit Trinkgeld – hievte die Beine in den schwarzen Jeans aus dem Benz und drückte einen Finger auf den Klingelknopf. Arndt öffnete. Wir gingen sogleich hinüber auf den asphaltierten Bauhofplatz, auf den er seine Holzplastiken gestellt hatte. Ölbilder waren auf einem langen blauen Metallgegenstand, der am Rand des Platzes, seine Länge einnehmend, lag, und als eine Art Stellage diente, aufgereiht. An der Nordwand eines großen Schuppens waren die Bilder des anderen Malers in „alter Hängung“, dicht an dicht, nebeneinander, übereinander angebracht. Gebilde, Gerippen ähnlich, schienen aus den hellbraunen holzartigen Flächenstrukturen hervor zu wachsen; der Maler K. nannte diese Bilder „Grabungen“. – Nachmittags fuhr ich mit dem Stadtbus zum Friedhof auf dem Hühnerfeld. Ich suchte das Grab meines Erzeugers, fand es ziemlich schnell. Es war noch da. Wer pflegte es (auf katholische Weise)? Lebte seine Lebensgefährtin noch? Nach einer Weile entnahm ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte, hockte mich nieder, öffnete das Türchen des Lämpchens, stellte das Kärtchen an die heruntergebrannte Kerze, schloß die Lampe wieder. Was sollte das? – Vom Grab meiner Mutter an einer anderen Stelle des Friedhofs schnitt ich die langen Stengel mit den seit dem Sommer nachgewachsenen Farnblättern mit dem Taschenmesser, das ich stets bei mir trage, ab. Im langen schwarzen Mantel beugte ich mich wieder und wieder über das Grab, auf dem kein Stein, kein Holzkreuz steht, nur ein spitzförmiges Nadelgewächs nach letzten Anweisungen meiner Mutter (die Frau H. gekannt hatte), das sich über den größten Bereich der Grabfläche in den vielen Jahren ausbreitete und das ich vor drei Monaten hatte stutzen müssen; schnitt, warf die grünen Stengel auf den grasigen Zwischenweg. So, nur wilder, zorniger, verzweifelt, hatte Lost, der Schriftsteller in Berlin, dieses Grab nach vielen Jahren der Abwesenheit von seiner Geburtsstadt vom vertrockneten Laub und vom gewucherten Kraut befreit. Ich trug die Farnstengel, den lockeren grünen Haufen, zu einem der Kompostbehälter an einem der größeren Wege, die durch den hügelanwärts angelegten Friedhof verliefen, kehrte um, sah auf das Grab, wandte mich ab. Unter dem aufgespannten Regenschirm, denn ein Guß regnete sich aus, schritt ich langsam, mit Tränen in den Augen, zum Ausgang der Sepulkralanlage. Mit dem Stadtbus gelangte ich in die Innenstadt.
- Graues Regenwetter. Nachmittags drang Sonnenlicht herunter, das abgedeckt wurde. Abends und in der Nacht fiel Regen.
5.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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