15
Sep

15.9.2002

Nach solch einem selbstromantisierenden Augenblick hat man sich nach Westen abzuwenden und diese ostwärts gerichtete Stätte mit ihren starken Bäumen und dichten Gebüschen und ihren Blumenrabatten durch eben dieses Durchgangstor unter einem Fenster zum Hirschgraben hin, dem spätmittelalterlichen Befestigungsgraben, dicht bewuchert mit hohem und niedrigem Gesträuch und Bäumen verschiedenster Arten, zu verlassen, um über die gerade Brücke, die erheblich jüngeren Datums ist, auf die Plätze und Wege des Gigelbergs zu gelangen, der an dieser Ostseite nicht bewaldet ist, das käme der Ortsbeschreibung nicht zutreffend zugute, aber Baumbestand hat, der in der Schützenfestwoche auf die schwedischen und kaiserlichen Zeltlager samt Kanonen und Speeren und Viehtränken erholsamen Schatten wirft, und umrahmt wird der ganze Gigelberg auch von Bäumen. Keine Schützenfestbuden und -karussells und „Schnee-Expreß“-Bahnen sind nun hier, im Spätsommer, zu sehen, kein zwei- oder dreimastiges Zirkuszelt breitet seine graublauen Planen aus (in den fünfziger und sechziger Jahren kamen noch große bekannte Zirkusse nach Biberach, und während der siebziger und achtziger Jahre wurden diese traditionellen artistischen Betriebe immer kleiner und seltener), und keine Zirkustiere stehen inmitten der Wagenburg des zirzensischen Völkchens; nur Leere und Stille empfangen den jugendlichen Schlenderer, der auf dem Weg ein paar amüsierte oder – seltener – selbstkritische Überlegungen vielleicht zu seinem Schlendrianleben anstellt und sich über die Ortsbezeichnung „Gigelberg“ gar keine Gedanken macht, weil er sie schon mit der frühesten Milchsuppe geschlürft hat und sie die pure selbstverständliche Gegebenheit ist. Warum aber nennt man diese Fläche „Gigelberg“? Was meint dies Wort, der Name? Verdankt er sich den Ghibellinen, der Kaiserlichen Partei des 17. Jahrhunderts? Leitet er sich ab von cucullus, gleich „Gugel“? Die „Gugel“ war eine Zipfelkappe der Bauern und Hausknechte; oder gab das viele Gucken von bekannter Aussichtsstelle die Bezeichnung? Krähte Gallus, der Hahn, krächzte der Nußjakel, der Nußhäher, vom Baum? Spielten Söldner oder fest angestellte Halsabschneider zu oft „Gaigel“, das älteste Kartenspiel, um einen fetten Hahn? In meiner Kindheit war der „Butzegaigeler“, der Purzelbaum (auch schon ein fremdartiges Wort), beliebt. „Auch die ersten Siedler am Gigel-berg in ihren mit Schilf gedeckten Hütten und später die besitzreichen Gräter von Stafflangen und die wohlhabenden stolzen Weber werden dort an der Sonnenseite des Gigelbergs (Weberberg) noch Hühner gehalten und die damals üblichen feisten ‚Kapaunen‘ nicht verschmäht haben“, schrieb einer vor vielen Jahren. Ist der Gigelberg also der „Hahnenberg“, auf dem am Schützenfest nach wie vordem die Hahnenkämpfe um gurrende gackernde „Chicken“ ausgetragen werden und der eine Gockeler dem anderen unter gewissen Umständen an die Gurgel geht? So mancher Hahnrei dürfte jedes Jahr zu „Schützen“ über den Gigelberg schlurfen. Wie dem auch sei: genug davon. (Erst nach Berlin mußte ich übersiedeln, um im Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek Vorstehendes am Beginn dieses Jahres auf der Suche nach anderen Informationen über frühere Biberacher Zeiten zu eruieren.)
- Kühler, aber sonniger Tag mit tiefblauem Äther und weiten Wolkenburgen; oder weißen Wolkengrafschaften. „Wolkenmarmor“, sagt Musil.
15.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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