30
Aug

30.8.2002

Valérie fuhr mit dem Zug, ich mit Bruno B. nach Berlin. Schon seit 1993 hatte mir Stefan Heidenreich, der jüngere Bruder von Ralph H., den ich 1988 in Biberach über Mario K. kennen gelernt hatte, seine Wohnung im fünften Stock im Hinterhaus Alte Schönhauser Straße 19 (mit Ausblick auf die Berliner Dächerlandschaft) als Logis für meine knapp einwöchigen Urlaube in Berlin angeboten, die ich – auch nicht jedes Jahr in den Neunzigern – im Frühjahr, Sommer, Spätsommer in der Hauptstadt genossen hatte, und zu Stefan fuhren Bruno und ich nun auch Mitte Juli 1996, bei ihm, in der noch unsanierten Wohnung eines ehemals besetzten Hauses, war unser Basislager für die dreitägigen Dreharbeiten. Schon in davor liegenden Jahren war ich mit Bruno nach Berlin gefahren, denn die Fahrt mit dem Benz war unvergleichlich billiger als mit der Bahn. Am späten Nachmittag im Juli parkte er das Auto in der Alten Schönhauser, wir griffen uns die Bestandteile unseres Gepäcks und Equipments und trugen alles die steile Treppe hinauf. Am nächsten Tag (Valéries Aufenthaltsort war ebenfalls in dieser Wohnung) fuhren wir zum Rosenthaler Platz und Bruno stellte den Benz ein paar Meter weiter in der Brunnenstraße ab.Wir drehten Material für die Anfangssequenz unseres Films, wie die Straßenbahnen der beiden verschiedenen Linien sich auf dem häßlichen Platz kreuzten. Das dauerte wieder einige Zeit, bis V. zufrieden war. Um uns brauste der Verkehr, schlichen die Passanten vorüber. Dann nahm V. die Kamera vom Stativ, ich verkürzte dessen Beine und trug es ihr hinterher. Dann machten wir Aufnahmen im Innenhof eines noch immer besetzten und völlig heruntergekommenen Hauses, filmten Graffiti und Müllcontainer und ein rot angemaltes Fensterkreuz in der Fassade. (Auch heute ist dieses Haus nicht saniert und noch bewohnt.) Wir kehrten zum Auto um, das vor dem Eingang zu diesem Hof stand. Bruno erschrak: war es das Fenster auf der Beifahrer- oder auf der Fahrerseite, das halb herunter gekurbelt offen stand? Bruno schloß auf, alles im Auto war in Ordnung. Er und ich atmeten auf. „Das wär’s noch gewesen, wenn mir das Auto geklaut worden wär“, sagte er, für den Moment verärgert. Er hatte sowieso schon in Biberach mit Valérie Ärger gehabt und sich von den Dreharbeiten, für die ich ihn ganz zu Anfang hinzu gezogen hatte, weil auch er ein Filmkenner war, im Juni endgültig absentiert, nur die Fahrt nach Berlin nahm er mir zuliebe noch auf sich. Dann waren für diesen Tag die Drehs beendet, V. nahm sich für Berlin frei. Am dritten Tag stiegen sie und Bruno von der Wohnung hinauf auf das flache Dach und V. filmte von oben, wie ich unten mit einer orange-farbenen Reisetasche durch den kleinen Hof ging: Lost verließ seine Behausung und ging auf ungeliebte Lesereise. V.s Oberkörper mit der Kamera ragte über den Dachrand, der große kräftige Bruno hielt sie an den Beinen fest. „Laß sie bloß nicht fallen“, hatte ich, in Abwesenheits V.s, zu ihm gesagt, „wir brauchen sie noch.“ Anschließend fuhren wir über den Prenzlauer Berg weit hinaus in den Osten, zur Rhynstraße, wo wir an einer Kreuzung weiterdrehten – „sieht aus wie in Rußland“, sagte Monate später beim Einsatz des Films im „Sternchen“ einer der älteren Zuschauer, was ich hörte, weil ich in dem Winkel, den einer der Pfeiler entlang des schmalen Ganges links, hat, stand – , wo wir die bunten Wohnblocks nach Osten hin, die von Mahrzahn, zu Bildern machten, und vor dem S-Bahnhof Lichtenberg, auf der Brücke, die dort die Fahrbahn bildet, filmte V. in Richtung Fernsehturm; der Verkehr flimmert im Film im Dunst eines Sommervormittags vorbei. Am Nachmittag vor der Abreise sollte noch Losts Einstieg in den Zug im Bahnhof Zoo gefilmt werden. V. fuhr wieder im Zug zurück, auch deshalb, weil sie aus dem fahrenden Zug heraus aufnehmen wollte. V. drehte in dem Zeitschriftenladen, der viele Jahre an der Ecke vor dem Bahnhof an der Hardenbergstraße in der sich dort befindenden Ladenzeile die Druckerzeugnisse aus aller Welt verkaufte, wie Lost eine Zeitung für die Reise erwirbt. Als wir dann auf dem Bahnsteig standen und filmen wollten, war der Akku leer. Und in wenigen Minuten fuhr der Zug ab. Ich hastete zu Brunos Auto vor dem Bahnhof, aus dem Kofferraum entnahmen wir die anderen, glücklicherweise aufgeladenen Akkus, ich eilte zum Bahnsteig. Schnell stellte ich einen Schuh auf das Waggontrittbrett, einmal, zweimal, Großaufnahme. Die Ansage, daß der Zug nun abfahre, schallte durch die Halle. Schnell stieg Valérie ein, ich winkte kurz und kehrte um. Während der ICE mit V. noch durch Berlin fuhr, steuerte Bruno über die Potsdamer Straße Schöneberg an. Fuhren wir in Berlin ein, kamen wir immer über die Bundesstraße 1, und auch für die umgekehrte Richtung bis zur Autobahn vor dem früheren Kontrollpunkt Dreilinden nahmen wir sie. Auf der Autobahn drückte Bruno auf’s Gas, wir jagten nach Biberach.
Im Dezember 2001 fiel mir etwas auf, und ich schrieb wieder davon für die Biberacher:
"BC, Brunnenstraße 23
Klaus-Dieter Diedrich spekuliert über das „BC“-Sgraffito in der Berliner Brunnenstraße.

Wer hat das nicht schon erfahren: man geht durch eine Straße, eine Stadt, und der „mitlaufende“ Blick bleibt plötzlich an einer Stelle irgendwo im topographischen Gefüge hängen. Etwas irritiert, oder hat das Interesse tieferliegender Bewusstseinsschichten erregt, und erst das dann absichtsvolle Hinsehen verdeutlicht die Situation. Etwas „fiel einem ins Auge“, vielleicht zeigt sich etwas Vertrautes in einem ungewohnten Zusammenhang, den man so oder an solchem Ort nicht vermutet hätte. Dieser Augenblick, im Sinn des Wortes, wirkt wie ein kleiner, feiner Schock, der das im Grunde längst Vertraute in ein Licht rückt, das aus einer rätselhaften Quelle scheint.
Vor einiger Zeit ging ich von meiner Wohnung zur Strassenbahnhaltestelle und mein Blick, der nicht nur mir stets ein wenig voraus ist, schlenderte zur anderen Straßenseite, schweifte weiter, stockte, kehrte um. BC steht dort geschrieben, registrierte er. Zwei große, fette Buchstaben an einem der unansehnlichsten Häuser der Straße: BC. Noch nie zuvor waren sie mir aufgefallen. In jenem Moment jedoch musste ich innerlich bereit gewesen sein, sie wahrzunehmen; hatte plötzlich mein Biberachbewusstsein, das sich in Berlin vernachlässigt fühlte, eine Chance „gesehen“, schnell mal wieder berücksichtigt zu werden?
Bei genauer Betrachtung sah ich nun die kleine Schrift über dem Kaugummi- und Krimskramsautomaten. Dieses Ding erinnerte mich sofort – die Sinnmaschine begann anzulaufen – an jenen Kaugummiautomaten, der viele Jahre lang am unteren Ende der Biberacher Königgasse an einer Hauswand hing, hinter der sich in den ersten Siebzigerjahren am Marktplatz eine Spielspelunke mit Flipperautomaten und Tischfußballgeräten befand, die ich fast täglich frequentierte. Die kleine Schrift an dieser Berliner Wand, wie zur Bekräftigung: „BC 99“, ein Pfeil daneben weist nach vorn, ein anderer Krakel ist unleserlich. Eine Signatur?
In der Malerei und in der Literatur des 20. Jahrhunderts gibt es den Begriff und die Gattung des Magischen Realismus, der, für die Malerei, 1925 vom Kunsthistoriker Franz Roh eingeführt wurde. Diese Form der Kunst widmet sich zwar der gegenständlichen Welt, verzichtet jedoch darauf, sie wirklichkeitsgetreu, realistisch zu formen. Im Banalen, Nüchternen und Objektiven wird das Geistige und Unheimlich-Unerklärliche zu erfassen versucht. Die Literaturtheorie definiert den Magischen Realismus als „ausgebildete moderne Form des Realismus, die die konkreten Erscheinungen, Bilder und Figuren der Wirklichkeit als Chiffren eines geheimen Sinnes, Symbole des Elementaren auffasst und den realistisch hergestellten Befund ins Innere umschlagen lässt zu einer seltsamen metaphysischen Transparenz“, so G. von Willperts Sachwörterbuch der Literatur.
Urplötzlich enthüllte sich mir das Sgraffito als ein „Zeichen an der Wand“ - Berlin hat ja etwas Babylonisches. Welches Menetekel hatte der unbekannte Sprayer verkünden wollen? BC: Be cool, Berlin Capital, Baby Cinderella, die Initialen seines Namens? War ihm etwa das Autokennzeichen des Landkreises Biberach bekannt gewesen? Ziemlich ausgeschlossen, hier in Berlin-Mitte. Was der Sprayer übermitteln wollte wirst du nie ergründen, sagte ich mir. Oder doch?
Südlich mündet die Brunnenstraße in den Rosenthaler Platz, wo 1996 die Anfangssequenz des Films „Lost in Illusions“von Valérie Lasserre und mir gedreht worden war, aus der hervorgeht, dass der Protagonist Lost in dieser Gegend wohnte. Damals hatte ich freilich „nicht im Traum daran gedacht“, dass ich selber, der ich im Film den Schriftsteller Lost darstellte, eines Tages gerade hier wohnen würde ... Von der Brunnenstraße führt die Veteranenstraße hinauf zum Prenzlauer Berg. 1999 war ich, aus Biberach kommend, zunächst in die Veteranenstraße gezogen. Um die Ecke stand, vermutlich, schon dieses „BC 99“ mit dem Pfeil nach vorn.
Als ich aus der Tram stieg, hatte sich das dunkle Menetekel also aufgehellt. Jemand – und wer war dieser sprayende Hauptstadtprophet? Lost in Nacht und Nebel? – hatte eine Beschwörungsformel hier angebracht, die besagte, dass 1999 ein Weg „nach vorn“ aus Biberach fortführen würde. Für wen oder was geht zunächst nicht aus ihr hervor; aber man hatte mich ja schon 1996 und auch in den Jahren danach, während meiner Berlin-Besuche, in diesen Straßen gesehen, in denen auch von Biberach geredet wurde. Jedenfalls hatte jemand etwas geahnt, oder provoziert.
Jemand? Nein. Berlin selbst hatte die Lockung an eine seiner Wände geworfen, um mich auch wirklich anzuziehen – nachdem die Stadt meine Absicht, hier leben zu wollen, aus meinen in der Luft schwebenden Gesprächen gehört hatte. Die beiden Großbuchstaben dienten als Blickfang für jenen Augenblick, der mir das Sgraffito zukommen lassen würde, denn ich sollte es eines Tages sehen und enträtseln, um zu wissen, dass Berlin mein Vorhaben mit einer magischen Botschaft unterstützt hatte.
So baut man sich die – imaginäre – Welt, in der das Wünschen noch stets half.“


- Keine nennenswerte Witterungsveränderung.
30.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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