23.8.2002
Am ersten Tag eines Monats oder am ersten Arbeitstag ging ich von 1963 bis 1967 oder 1968 von der Lindelestraße zur Firma „Kaltenbach & Voigt“, „KaVo“, am Bismarckring, um das Unterhaltsgeld von meinem Erzeuger in Empfang zu nehmen. Die im Verlauf dieser Jahre in ihrem Häuschen vor dem großen Parkplatz hinter dem Eingangstor sitzenden Portiers kannten mich bald und sagten zuweilen joviale Sätze wie: „Grüß Gott, wieder zum Papa?“ Ich entgegnete ein kurzes „Ja“ oder nickte nur stumm. In den frühen Sechzigern betrat ich dann das älteste Gebäude des umfassenden Firmengeländes links vom Eingang, an der Bleicherstraße gelegen, das vor dem Einzug der Firma KaVo im Jahr 1947 zu einer Fabrik mit dem Eigentümernahmen „Schmitz“ gehört hatte. Um die Hintergründe der Ansiedlung von „Kaltenbach & Voigt“ in Biberach nun nicht noch einmal schreiben zu müssen, folgt ein Artikel, den ich im Frühjahr 2000 verfaßte, der aber erst ein Jahr danach in der lokalen Zeitung erschien:
KaVo-Jahre in Berlin und Potsdam – eine Spurensuche
Das Dentalunternehmen „Kaltenbach & Voigt“ ist einer der bekanntesten großen Arbeitgeber in Biberach. Klaus-Dieter Diedrich suchte in Berlin und Potsdam nach den Anfängen der seit 1946 in Biberach ansässigen, seit Jahrzehnten weltweit operierenden Firma.
Vor einiger Zeit besuchte ich eine Science Fiction-Buchpräsentation der Berliner Festspiele GmbH in der pittoresken Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums des Universitätsklinikums Charité und war plötzlich und ungewollt selber auf einer Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Denn kaum hatte ich das Museum betreten, fiel mein Blick auf einen durch sein Alter schon wieder fremd futuristisch anmutenden Zahnarztstuhl. Neugierig las ich das Erklärungsschildchen, und tatsächlich: „Zahnarztsessel von Kaltenbach & Vogt, 1930.“
Der falsch geschriebene Name „Vogt“ stach mir ins Auge, denn diesen Namen kenne ich seit Kindertagen. Mein Vater hatte 1929 als Zwanzigjähriger bei KaVo angefangen und war der Firma als Werkzeugmachermeister und später Leiter der Werkzeugabteilung bis zur Pensionierung treu geblieben. In seinen jüngeren Berufsjahren bei Kaltenbach & Voigt war er, wie er mir einmal, viele Jahre später in Biberach, sagte, so etwas wie der persönliche Assistent des Firmenmitbegründers Voigt gewesen. KaVo hatte seinen Sitz zunächst in Potsdam gehabt und ihn nach Kriegsende nach Biberach verlegt, soviel war klar. Der Vater war einer jener sieben Leute gewesen, mit denen KaVo in Biberach neu begonnen hatte. Aber wo genau hatte er zuvor für die Firma gearbeitet?
Der Firmengründer, Alois Kaltenbach, 1887 in der Nähe von Freiburg i. Breisgau geboren, macht sich 1909 in Berlin als Instrumentenbauer selbständig. Im Berliner Landesarchiv erfahre ich, dass mit dem Mechanikerkollegen Richard Holz als Kompagnon die „Mechanische(n) Werkstätten Holz & Kaltenbach“ entstehen, die im Lauf der Zeit dreißig Mitarbeiter beschäftigen und als Geschäftsanschrift die Schützenstraße 7 in Berlin-Steglitz haben. Ab 1914 steht nur noch Kaltenbachs Namen im Berliner Stadtadressbuch.
Von 1919 an wird der Betrieb in Potsdam weitergeführt, mitten im Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe des imposanten friderizianischen Marstalls, in dem seit Jahren u. a. das Filmmuseum Potsdam untergebracht ist. Bernhard Kaltenbach (41), gebürtiger Biberacher und Rechtsanwalt in der renommierten Berliner und Potsdamer Kanzlei Seeberg & Stabreit, der mit seiner Familie und zwei Mietparteien seit 1995 das zwei Jahre zuvor rückübereignete Wohnhaus der Kaltenbachs in Potsdam bewohnt, sagt:
„Mit dem Berliner Richard Voigt gründete mein Großvater nach seinen Jahren in Steglitz dann in Potsdam, in der ehemaligen Mammonstraße, heute Werner-Seelenbinder-Straße, die Firma Kaltenbach & Voigt. Im Betriebsgebäude wohnte die Familie auch während der ersten zehn Potsdamer Jahre. Mein Vater, der später in Biberach lange Jahre Geschäftsführer der Firma war, wurde dort geboren. Das Unternehmen produzierte“, so Kaltenbach, „schon damals zahnärztliche Instrumente und Geräte nicht nur für das Inland, sondern auch für den Export. Vor 1939 waren etwa 230 Mitarbeiter im Betrieb. In den letzten Kriegswirren kamen Voigt und der Prokurist Peter Picard ums Leben, der Betrieb wurde teilweise zerstört.“
Alois Kaltenbach lässt die Schäden beseitigen, doch als wieder gefertigt werden kann, müssen Reparationsleistungen an die Sowjetunion abgeführt werden. In weiser Voraussicht dessen, was auch kam, schickt Kaltenbach als umsichtiger Firmenchef den technischen Betriebsleiter Erich Hoffmeister in die Westzonen des besetzten Deutschlands, um dort nach einem geeigneten zweiten Standort für das Unternehmen zu suchen. Schließlich findet Hoffmeister in Biberach die günstigsten Bedingungen.
1946 etabliert sich „Kaltenbach & Voigt“ als Neugründung mit den besagten sieben Mann unter der Leitung von Hoffmeister als neuem Mitgesellschafter am Bismarckring. Unterdessen wird der Potsdamer Stammbetrieb weitergeführt. Alois Kaltenbach bekommt einen Hinweis, die inzwischen zur DDR gewordene „Ostzone“ besser zu verlassen: ein politisch motiviertes Gerichtsverfahren gegen ihn sei in Vorbereitung.
„Mein Vater vermutet“, sagt Bernhard Kaltenbach, „dass mit dem Auslaufen der Reparationsleistungen um 1950/51 der ‚Schutz‘ des Unternehmens durch die Besatzungsmacht Sowjetunion entfiel und der Weg zur Enteignung damit frei war. Aus einem vorgeschobenen Grund wurde mein Großvater, zum Glück in Abwesenheit, denn meine Großeltern waren bereits 1951 nach Biberach geflohen, 1952 als ‚Kapitalist‘ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.“
KaVo-Potsdam wird 1952 nach der Enteignung zum „Volkseigenen Betrieb Dentaltechnik Potsdam“. Diesen Betrieb verkaufte die Treuhand nach der deutschen Wiedervereinigung 1992 an einen Investor; nach einigen Jahren wurde die Fertigung eingestellt. Rechtsanwalt Bernhard Kaltenbach kümmerte sich um die Rehabilitierung seines 1971 verstorbenen Großvaters und um die anstehenden vermögensrechtlichen Fragen.
Ich gehe zum früheren Fabrikgebäude, das auf eine neue Verwendung wartet und stelle mir vor, wie mein Vater durch diese Türen ein- und ausgegangen war. Wenn die Jahre der Firma KaVo anders verlaufen wären – hätte ich Biberach je gekannt?
Oft trafen mein Vater und ich uns in einem kleinen muffigen düsteren Zimmer, in dem an einer Wand Aktenschränke standen und für diesen Hauptzweck war der Raum ja auch gut geeignet. In den Gängen, die von einem neongelb-grauen Licht gleichmäßig ausgefüllt waren, roch es nach Metall, Maschinen und ihrem Öl, eine Mixtur, die wohl auch für andere Maschinenbauunternehmen typisch ist. Mein Erzeuger, der an manchen dieser Nachmittage schon auf dem Flur aus der entgegengesetzten Richtung auf mich zukam, in einen nicht zugeknöpften grauen Meistermantel gekleidet, setzte sich auf den einfachen Stuhl, ich mich auf einen zweiten am Tisch, auf den das mal sonnige, mal regenbleiche Licht über der Bleicherstraße durch das Fenster hereinschwappte, und er griff nach ein paar einsilbigen Worten, die wir wechselten, zu seiner Brieftasche im Jackett unter dem Mantel. Ich steckte die Geldscheine mit einem „Danke“ in eine Innentasche meines Anoraks oder meiner Jacke und dachte mir in den Jahren nach der Jahrzehnthälfte dabei immer öfter, daß dieses Geld mehr sein könnte. Im Auftrag meiner Mutter führte ich einmal, 1967, eine Verhandlung um Erhöhung des Unterhaltsgeldes, die mit der unwirschen Bemerkung „Ich kann nicht mehr zahlen!“ schließlich abgetan war. Verständlich diese Äußerung, denn sehr wahrscheinlich fraßen die Abzahlungsraten für das Haus, das er und seine Gefährtin, mit der er in „wilder Ehe“ zusammenlebte, sich im Hagenbucher Weg am anderen Ende der Stadt gebaut hatten, einen beträchtlichen Teil seines Gehalts auf. Und mir war das Betteln um Geld schon damals unangenehm und würdelos vorgekommen, und so war es auch später. Dennoch war ich in bestimmten Situationen auf das Geld meines Erzeugers angewiesen: bei der Vorfinanzierung meines Gerichtsverfahrens gegen diesen Staat, in der Mitte der Siebziger dann, um einmal die Leasing-Raten für die IBM bezahlen zu können, die in der Karpfengassenzeit zu einem von mir nicht aufzubringenden Betrag angewachsen waren. Nach der Pensionierung saßen wir 1976 und 1977 zwei- oder dreimal im „Café Lieb“ und unterhielten uns „von Mann zu Mann“ über Alltägliches, aber nicht nur: sehr sparsam redete mein „Alter“ über Vergangenes aus seinem Berufsleben, und das auch nur ein Mal; über die Gründe der verkorksten Ehe – seine Frau war immer „deine Mutter“ – äußerte er, wenn das Gespräch doch an die Nähe dieser vergangenen Verhältnisse geraten war, nie etwas und wir wechselten auch rasch das Thema. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, von ihnen aus seiner Sicht etwas zu erfahren. Ich hätte das Gesagte sowieso in Zweifel gezogen, denn obwohl ich sehr wenig von ihm wußte, hatte ich doch in früheren Jahren geahnt, daß er sich die Wahrheit so zurecht legte, wie sie ihm in den Kram paßte. (Die Papiere, die ich bei den Unterlagen meiner Mutter hier in Berlin erst entdeckte, bestätigten dies.) Wir saßen beim Kaffee, vielleicht verspeiste ich ein Stück Kuchen mit Sahne, rauchten „Kurmark“-Zigaretten – nach einer Weile zogen wir beide eine Schachtel dieser Marke aus einer Tasche, weder er noch ich wußten, daß der andere diese Sorte qualmte – , er erzählte von seinem Schäferhund, den er sich – „man muß ja mal raus“ – ins Haus geholt hatte. In dieses Haus setzte ich übrigens nie einen Fuß. Ich ging aber ein einziges Mal daran vorbei, um mir das einmal anzusehen. Er war dick geworden, mit rundem Gesicht, in dem der immer sich zurückhaltende, doch vorhandene Zug ins „Asiatische“ – „er sieht jetzt aus wie ein Buddha“, hatte meine Mutter zu Beginn der siebziger Jahre gesagt – nun stärker ausgeprägt war, mit noch wenigen grauen Haaren zwischen den dunklen saß er am Tisch; Zeige- und Mittelfinger (er hatte fleischige Finger) waren vom Nikotingelb gefärbt. Er war nicht besonders gesund, wie er in einem Nebensatz herausließ. Ich saß mit ellenlangen Haaren ihm gegenüber, mit Oberlippenbärtchen, in Jeans und T-Shirt. So verplauderten wir, eigentlich unangestrengt, weil alle kritischen Bereiche sorgfältig umgangen wurden, eine Stunde, bis wir uns vor dem Café trennten. Er sagte mir im Juli 1976, wie er in den letzten Tagen des Krieges in Potsdam, die sowjetische Armee hatte sich unaufhaltsam nach Berlin voran gekämpft, den im Chaos der Kriegshandlungen umgekommenen Mitinhaber der Firma „Kaltenbach & Voigt“, eben Voigt, gemeinsam mit einem Kollegen heimlich begraben habe; ich war zunächst beeindruckt, wurde dann skeptisch. Konnte diese story glaubwürdig sein? Ich denke aber, daß er in diesem Fall die Wahrheit sagte, denn alles, was mit seinem Beruf zu tun hatte, war ihm wichtig. Im Frühjahr 1977 mußte ich ihn wegen meiner Finanzen noch einmal treffen. Im „Lieb“ erklärte ich die Lage. “Du wirst noch im Gefängnis landen“, sagte er etwas ungehalten. Über meinen Studienabbruch verloren wir kein Wort. Es schien ihm gleichgültig zu sein, was ich aus meinem Leben machte. Er wußte, daß ich ein bißchen vor mich hin schrieb, das wurde nie thematisiert. Sich herauszuhalten war das beste, was er tun konnte. Wieder saßen wir vor Kaffeetassen. Er zog drei Schuldscheine über je DM 500,- hervor, legte sie auf den Tisch, ich unterschrieb sie. Er gab mir das Geld. Es war das letzte Mal, daß ich ihn sah.
- Sonnenstarkes ruhiges Sommerwetter.
23.8.2002
KaVo-Jahre in Berlin und Potsdam – eine Spurensuche
Das Dentalunternehmen „Kaltenbach & Voigt“ ist einer der bekanntesten großen Arbeitgeber in Biberach. Klaus-Dieter Diedrich suchte in Berlin und Potsdam nach den Anfängen der seit 1946 in Biberach ansässigen, seit Jahrzehnten weltweit operierenden Firma.
Vor einiger Zeit besuchte ich eine Science Fiction-Buchpräsentation der Berliner Festspiele GmbH in der pittoresken Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums des Universitätsklinikums Charité und war plötzlich und ungewollt selber auf einer Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Denn kaum hatte ich das Museum betreten, fiel mein Blick auf einen durch sein Alter schon wieder fremd futuristisch anmutenden Zahnarztstuhl. Neugierig las ich das Erklärungsschildchen, und tatsächlich: „Zahnarztsessel von Kaltenbach & Vogt, 1930.“
Der falsch geschriebene Name „Vogt“ stach mir ins Auge, denn diesen Namen kenne ich seit Kindertagen. Mein Vater hatte 1929 als Zwanzigjähriger bei KaVo angefangen und war der Firma als Werkzeugmachermeister und später Leiter der Werkzeugabteilung bis zur Pensionierung treu geblieben. In seinen jüngeren Berufsjahren bei Kaltenbach & Voigt war er, wie er mir einmal, viele Jahre später in Biberach, sagte, so etwas wie der persönliche Assistent des Firmenmitbegründers Voigt gewesen. KaVo hatte seinen Sitz zunächst in Potsdam gehabt und ihn nach Kriegsende nach Biberach verlegt, soviel war klar. Der Vater war einer jener sieben Leute gewesen, mit denen KaVo in Biberach neu begonnen hatte. Aber wo genau hatte er zuvor für die Firma gearbeitet?
Der Firmengründer, Alois Kaltenbach, 1887 in der Nähe von Freiburg i. Breisgau geboren, macht sich 1909 in Berlin als Instrumentenbauer selbständig. Im Berliner Landesarchiv erfahre ich, dass mit dem Mechanikerkollegen Richard Holz als Kompagnon die „Mechanische(n) Werkstätten Holz & Kaltenbach“ entstehen, die im Lauf der Zeit dreißig Mitarbeiter beschäftigen und als Geschäftsanschrift die Schützenstraße 7 in Berlin-Steglitz haben. Ab 1914 steht nur noch Kaltenbachs Namen im Berliner Stadtadressbuch.
Von 1919 an wird der Betrieb in Potsdam weitergeführt, mitten im Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe des imposanten friderizianischen Marstalls, in dem seit Jahren u. a. das Filmmuseum Potsdam untergebracht ist. Bernhard Kaltenbach (41), gebürtiger Biberacher und Rechtsanwalt in der renommierten Berliner und Potsdamer Kanzlei Seeberg & Stabreit, der mit seiner Familie und zwei Mietparteien seit 1995 das zwei Jahre zuvor rückübereignete Wohnhaus der Kaltenbachs in Potsdam bewohnt, sagt:
„Mit dem Berliner Richard Voigt gründete mein Großvater nach seinen Jahren in Steglitz dann in Potsdam, in der ehemaligen Mammonstraße, heute Werner-Seelenbinder-Straße, die Firma Kaltenbach & Voigt. Im Betriebsgebäude wohnte die Familie auch während der ersten zehn Potsdamer Jahre. Mein Vater, der später in Biberach lange Jahre Geschäftsführer der Firma war, wurde dort geboren. Das Unternehmen produzierte“, so Kaltenbach, „schon damals zahnärztliche Instrumente und Geräte nicht nur für das Inland, sondern auch für den Export. Vor 1939 waren etwa 230 Mitarbeiter im Betrieb. In den letzten Kriegswirren kamen Voigt und der Prokurist Peter Picard ums Leben, der Betrieb wurde teilweise zerstört.“
Alois Kaltenbach lässt die Schäden beseitigen, doch als wieder gefertigt werden kann, müssen Reparationsleistungen an die Sowjetunion abgeführt werden. In weiser Voraussicht dessen, was auch kam, schickt Kaltenbach als umsichtiger Firmenchef den technischen Betriebsleiter Erich Hoffmeister in die Westzonen des besetzten Deutschlands, um dort nach einem geeigneten zweiten Standort für das Unternehmen zu suchen. Schließlich findet Hoffmeister in Biberach die günstigsten Bedingungen.
1946 etabliert sich „Kaltenbach & Voigt“ als Neugründung mit den besagten sieben Mann unter der Leitung von Hoffmeister als neuem Mitgesellschafter am Bismarckring. Unterdessen wird der Potsdamer Stammbetrieb weitergeführt. Alois Kaltenbach bekommt einen Hinweis, die inzwischen zur DDR gewordene „Ostzone“ besser zu verlassen: ein politisch motiviertes Gerichtsverfahren gegen ihn sei in Vorbereitung.
„Mein Vater vermutet“, sagt Bernhard Kaltenbach, „dass mit dem Auslaufen der Reparationsleistungen um 1950/51 der ‚Schutz‘ des Unternehmens durch die Besatzungsmacht Sowjetunion entfiel und der Weg zur Enteignung damit frei war. Aus einem vorgeschobenen Grund wurde mein Großvater, zum Glück in Abwesenheit, denn meine Großeltern waren bereits 1951 nach Biberach geflohen, 1952 als ‚Kapitalist‘ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.“
KaVo-Potsdam wird 1952 nach der Enteignung zum „Volkseigenen Betrieb Dentaltechnik Potsdam“. Diesen Betrieb verkaufte die Treuhand nach der deutschen Wiedervereinigung 1992 an einen Investor; nach einigen Jahren wurde die Fertigung eingestellt. Rechtsanwalt Bernhard Kaltenbach kümmerte sich um die Rehabilitierung seines 1971 verstorbenen Großvaters und um die anstehenden vermögensrechtlichen Fragen.
Ich gehe zum früheren Fabrikgebäude, das auf eine neue Verwendung wartet und stelle mir vor, wie mein Vater durch diese Türen ein- und ausgegangen war. Wenn die Jahre der Firma KaVo anders verlaufen wären – hätte ich Biberach je gekannt?
Oft trafen mein Vater und ich uns in einem kleinen muffigen düsteren Zimmer, in dem an einer Wand Aktenschränke standen und für diesen Hauptzweck war der Raum ja auch gut geeignet. In den Gängen, die von einem neongelb-grauen Licht gleichmäßig ausgefüllt waren, roch es nach Metall, Maschinen und ihrem Öl, eine Mixtur, die wohl auch für andere Maschinenbauunternehmen typisch ist. Mein Erzeuger, der an manchen dieser Nachmittage schon auf dem Flur aus der entgegengesetzten Richtung auf mich zukam, in einen nicht zugeknöpften grauen Meistermantel gekleidet, setzte sich auf den einfachen Stuhl, ich mich auf einen zweiten am Tisch, auf den das mal sonnige, mal regenbleiche Licht über der Bleicherstraße durch das Fenster hereinschwappte, und er griff nach ein paar einsilbigen Worten, die wir wechselten, zu seiner Brieftasche im Jackett unter dem Mantel. Ich steckte die Geldscheine mit einem „Danke“ in eine Innentasche meines Anoraks oder meiner Jacke und dachte mir in den Jahren nach der Jahrzehnthälfte dabei immer öfter, daß dieses Geld mehr sein könnte. Im Auftrag meiner Mutter führte ich einmal, 1967, eine Verhandlung um Erhöhung des Unterhaltsgeldes, die mit der unwirschen Bemerkung „Ich kann nicht mehr zahlen!“ schließlich abgetan war. Verständlich diese Äußerung, denn sehr wahrscheinlich fraßen die Abzahlungsraten für das Haus, das er und seine Gefährtin, mit der er in „wilder Ehe“ zusammenlebte, sich im Hagenbucher Weg am anderen Ende der Stadt gebaut hatten, einen beträchtlichen Teil seines Gehalts auf. Und mir war das Betteln um Geld schon damals unangenehm und würdelos vorgekommen, und so war es auch später. Dennoch war ich in bestimmten Situationen auf das Geld meines Erzeugers angewiesen: bei der Vorfinanzierung meines Gerichtsverfahrens gegen diesen Staat, in der Mitte der Siebziger dann, um einmal die Leasing-Raten für die IBM bezahlen zu können, die in der Karpfengassenzeit zu einem von mir nicht aufzubringenden Betrag angewachsen waren. Nach der Pensionierung saßen wir 1976 und 1977 zwei- oder dreimal im „Café Lieb“ und unterhielten uns „von Mann zu Mann“ über Alltägliches, aber nicht nur: sehr sparsam redete mein „Alter“ über Vergangenes aus seinem Berufsleben, und das auch nur ein Mal; über die Gründe der verkorksten Ehe – seine Frau war immer „deine Mutter“ – äußerte er, wenn das Gespräch doch an die Nähe dieser vergangenen Verhältnisse geraten war, nie etwas und wir wechselten auch rasch das Thema. Ich hatte überhaupt kein Interesse daran, von ihnen aus seiner Sicht etwas zu erfahren. Ich hätte das Gesagte sowieso in Zweifel gezogen, denn obwohl ich sehr wenig von ihm wußte, hatte ich doch in früheren Jahren geahnt, daß er sich die Wahrheit so zurecht legte, wie sie ihm in den Kram paßte. (Die Papiere, die ich bei den Unterlagen meiner Mutter hier in Berlin erst entdeckte, bestätigten dies.) Wir saßen beim Kaffee, vielleicht verspeiste ich ein Stück Kuchen mit Sahne, rauchten „Kurmark“-Zigaretten – nach einer Weile zogen wir beide eine Schachtel dieser Marke aus einer Tasche, weder er noch ich wußten, daß der andere diese Sorte qualmte – , er erzählte von seinem Schäferhund, den er sich – „man muß ja mal raus“ – ins Haus geholt hatte. In dieses Haus setzte ich übrigens nie einen Fuß. Ich ging aber ein einziges Mal daran vorbei, um mir das einmal anzusehen. Er war dick geworden, mit rundem Gesicht, in dem der immer sich zurückhaltende, doch vorhandene Zug ins „Asiatische“ – „er sieht jetzt aus wie ein Buddha“, hatte meine Mutter zu Beginn der siebziger Jahre gesagt – nun stärker ausgeprägt war, mit noch wenigen grauen Haaren zwischen den dunklen saß er am Tisch; Zeige- und Mittelfinger (er hatte fleischige Finger) waren vom Nikotingelb gefärbt. Er war nicht besonders gesund, wie er in einem Nebensatz herausließ. Ich saß mit ellenlangen Haaren ihm gegenüber, mit Oberlippenbärtchen, in Jeans und T-Shirt. So verplauderten wir, eigentlich unangestrengt, weil alle kritischen Bereiche sorgfältig umgangen wurden, eine Stunde, bis wir uns vor dem Café trennten. Er sagte mir im Juli 1976, wie er in den letzten Tagen des Krieges in Potsdam, die sowjetische Armee hatte sich unaufhaltsam nach Berlin voran gekämpft, den im Chaos der Kriegshandlungen umgekommenen Mitinhaber der Firma „Kaltenbach & Voigt“, eben Voigt, gemeinsam mit einem Kollegen heimlich begraben habe; ich war zunächst beeindruckt, wurde dann skeptisch. Konnte diese story glaubwürdig sein? Ich denke aber, daß er in diesem Fall die Wahrheit sagte, denn alles, was mit seinem Beruf zu tun hatte, war ihm wichtig. Im Frühjahr 1977 mußte ich ihn wegen meiner Finanzen noch einmal treffen. Im „Lieb“ erklärte ich die Lage. “Du wirst noch im Gefängnis landen“, sagte er etwas ungehalten. Über meinen Studienabbruch verloren wir kein Wort. Es schien ihm gleichgültig zu sein, was ich aus meinem Leben machte. Er wußte, daß ich ein bißchen vor mich hin schrieb, das wurde nie thematisiert. Sich herauszuhalten war das beste, was er tun konnte. Wieder saßen wir vor Kaffeetassen. Er zog drei Schuldscheine über je DM 500,- hervor, legte sie auf den Tisch, ich unterschrieb sie. Er gab mir das Geld. Es war das letzte Mal, daß ich ihn sah.
- Sonnenstarkes ruhiges Sommerwetter.
23.8.2002
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