9
Aug

9.8.2002

Der 9. August 1975 fiel auf einen Samstag. Der Sommer war groß und heiß. In Laichingen hielt der Science Fiction Club Deutschland e.V. seinen jährlichen Con ab. Dieses Nicht-Ereignis beachtete ich nicht, doch wollten einige Redakteure und Mitarbeiter der SFT dort auftreten, um darüber abstimmen zu lassen, ob diese kritische Zeitschrift als „Clubleistung“ jedem Mitglied zugestellt werden sollte, auch, um diesem erz-konservativ-lächerlichen Club, für dessen Mitgliedermehrheit Politik nichts mit Science Fiction zu tun haben sollte (weshalb ich seit Jahren schon mit ihm nichts mehr zu tun hatte), argumentativ doch noch, ein letzter Versuch schien gerechtfertigt zu sein, auf die Beine zu helfen. Ich fragte bei Hahn & Co. an, ob sie, wenn sie sich im schwäbischen Dorf bei Ulm aufhielten, nicht Lust auf einen samstäglichen Abstecher nach Biberach hätten. Ich gab eine Telefonnummer an, unter der ich zu erreichen war. Das war die der unteren Mieter in der Lindelestraße 2. Ernsthaft rechnete ich nicht damit, daß jemand käme, aber ich dachte, es könne für mich eine erfreuliche Abwechslung sein, wenn sie mit mir im „Schwanenkeller“ einige Bierchen zu sich nähmen. Niemand rief an. Zweimal wechselte ich vom Biertisch vor dem „Schwanenkeller“, an dem ich schon nachmittags zusammen mit anderen mit krummem Rücken hockte, hinauf zur Lindelestraße, wo ich bei den Mieter im Hochparterre, Familie S., einer lauten Familie, wie meine Mutter immer häufiger und zu Recht konstant beklagte, frug, ob jemand für mich angerufen habe; nein, hieß es zweimal. Nach dem zweiten Gang – ich war doch ein wenig enttäuscht – gab ich es auf., Besuch zu erwarten, und blieb vor Ort in der Kneipe, an einem der Tisch vor der Arkade, trank Wein. Ich war schon reichlich abgefüllt, im Schädel drückte etwas auf die Hirnmasse, der Blick war noch klar, aber tendierte zur Vorstufe des Umflortseins. In die Unterhaltung geriet langsam aber sicher etwas Störendes, die Zunge wurde ein Spur unbeweglicher. H., der aus der Spielhalle, saß in seiner Clique an einem anderen Tisch, trank seine Radlerhalbe und beachtete mich nicht, hatte mich vielleicht nicht einmal bemerkt. Nur Elian, der ich einige Zeit zuvor gegenüber eine Bemerkung fallengelassen hatte, daß dieser Typ, und auch sie kannte seinen Vater, mir gefiele, hatte zu mir, als H. auf seinem Mofa den steilen Weg heraufgeknattert war, gesagt: „Guck mal, wer da kommt.“ Ich hatte etwas wie „Na ja, und?“ gemurmelt, weil ich wußte, daß mir natürlich nichts anderes übrigbleiben würde, als mich sehr zurückzuhalten. Er fuhr dann auch bald wieder hinunter. Ich bestellte noch ein Glas Rotwein. Dann kam ein Junge, der mir einmal, Wochen zuvor auf dem Gigelberg während des Schützenfestes, aufgefallen war, vor das Lokal, zwischen die Tische, setzte sich an den Nebentisch. Ein Rauschgoldengel, langes, dunkelblondes Haar, hübsch, das Gesicht etwas spitzbübisch und intelligent, etwas kleiner als ich. Ich schätzte ihn auf sechzehn Jahre. Ich wurde ganz nervös. Deshalb mußte ich noch ein Glas Wein ordern. Freunde und Bekannte saßen um mich herum, doch ihre Gesichter sind bis auf die von Herbert K. und Elian aus dem Gedächtnis geflohen. Es dauerte eine Weile, dann stand der Junge plötzlich auf und setzte sich mir nichts dir nichts zu uns an den Tisch. Niemand kannte ihn. War er von unserem Gespräch angelockt worden? Er mischte sich ein, wir ließen ihn amüsiert-neugierig gewähren. Er gefiel mir immer besser. „Ich glaub, KD, der Kleine sucht Anschluß“, sagte Herbert in seinem Wiener Idiom zu mir. Den Eindruck hatte ich auch. Der Abend dunkelte allmählich. Irgendwann, als es richtig dunkel war und die Tische vor dem Lokal von den Glühbirnen unter den Arkaden und an den etwas durchhängenden Leitungen entlang des Vorplatzes beschummert wurden, stand ich urplötzlich auf, umrundete den Tisch und begann, im Haar des Jungen herumzuwühlen, es zu streicheln. Er ließ es sich widerstandslos gefallen. Das wunderte mich in meinem Alkoholrausch ein bißchen, aber nicht mehr. Außerdem war mir alles scheiß-egal. Ich mußte jetzt diesen Knaben anmachen. Das ging so eine Weile, niemand nahm Anstoß daran, das Gemurmel um mich herum hatte den gleichmäßigen Ton behalten; ich war blau; ich ging wieder um den Tisch herum, reihte mich auf der Bank ein. Wer war dieser junge Typ, der sich sehr ungerührt zeigte? Hatte er schon Erfahrungen mit Schwulen? (Viel später danach hörte ich von ihm: er hatte gehabt, aber nicht auf sexuelle Weise. Und an einem Abend zu jenem Zeitpunkt des „viel später“ sagte er mir: „Ich dachte, was ist jetzt los. Ist der Typ schwul oder was?“) Ich war scharf, Moral und die Befürchtung, etwas Unüberlegtes noch zu tun, stellten mich ruhig; und der Alkohol, der mich nun lähmte statt voran zu treiben. Der Junge unterhielt sich weiterhin angeregt in der Runde und entschwand mir ihr, als sie sich vor Mitternacht auflöste. Ich schwankte durch die Nacht zu meinem Bett. Am folgenden Vormittag erinnerte ich mich an mein Verhalten. Ich fand sehr mutig, was ich getan hatte. Wer war dieser Rauschgoldengel? Nicht sehr lange dauerte es, bis ich seinen Namen erfuhr, er war mir bekannt, sehr bekannt, ich war erstaunt, doch begegneten er und ich uns in den folgenden Wochen nie. Mein drittes Semester in Stuttgart begann. Ich dachte an diesen Typ. Der Herbst warf seine goldenen Blätter um sich, als ich Studium und Stuttgart verließ. Im Biberacher Winter erst sah ich den hübschen aufgeweckten Jungen wieder, wahrscheinlich im „Strauß“, aber er saß vermutlich an einem weiter entfernten Tisch und bemerkte mich nicht oder wollte mich nicht sehen. Jedenfalls hatten wir in jenen Monaten nichts miteinander zu tun. Noch nicht.
- Ruhiger Sommertag. Warm, abends zog sich der Himmel eine Wolkendecke über.
9.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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