6.7.2002
Am Schützenmontag im Jahr 1984 hatte ich meinen üblichen freien Montag. Ich sitze am frühen Abend schon im „Storchen“ in der Ehinger-Tor-Straße, der letzten Freakkneipe der Stadt; und was sich Freak genannt hat in den vergangenen zehn Jahren, ist nun auch nicht mehr original präsent. Die jungen Langhaarigen sind weniger geworden, die Kurzhaarigen mehr, gekifft wird deswegen wohl noch mehr als früher. Ich kiffe aber nicht, ich trinke. Rotwein wie immer, so auch an diesem Abend, in dem hier, in dieser Kneipe in der verwinkelten Altstadt – in zwei alten, hohen Räumen, die einmal eine gutbürgerliche Gastwirtschaft beherbergt hat, sitzen vom Fünf-zehnjährigen bis zum Mittfünfziger die nicht oder nicht mehr oder noch nicht so Stromlinienförmigen, Schüler, Künstler, Filmvorführer, an schlichten großen Tischen – vom Schützenfest gar nichts zu hören und zu sehen ist. Ich sitze beim zweiten Viertele Württemberger, mit zwei Bekannten, die ich – in diesem Präsens, das dieser Parenthese folgt – jetzt nicht identifizieren kann; sie sind also nur Bekannte, keine Freunde? Till kommt herein, aber nicht auf der Suche nach mir, was ich weiß, als er sich, da ich nun einmal hier hocke, an den Tisch dazusetzt. Ich freue mich, ich weiß aber, daß die Freude sich jetzt schon verflüchtigt und der Enttäuschung ihren Raum überläßt, denn Till ist mir gegenüber zurückhaltend, wie stets, wenn wir in Gesellschaft von anderen sind. Ärger steigt in mir auf, als er dann sagte, er ginge weiter, hinauf zum „Schwanenkeller“; war in den Siebzigern die Hochburg (am nördlichen Gigelberghang) der Freaks, auch 1984 ist dieses Flair und Ambiente, wenigstens an „Schützen“, nicht völlig verduftet. Ich weiß, ich kenne solche Situationen, er würde es nicht schätzen, wenn ich mitginge. Ich versuche cool zu bleiben – „cool“ kam allmählich überall in Mode – und mache den Gleichgültigen, fühle mich aber wieder verletzt; Till geht, ich trinke vorerst hier weiter. –
Am späteren Abend bin ich zum „Alten Haus“ in der Kolpingstraße vorgedrungen, dort bleibe ich. Mein Alkoholspiegel ist angestiegen, aber ich vertrage viel. Übung machte mich darin zum Meister. Nun bestelle ich aber „Achtele“ Rotwein, im versuchten Selbstbetrug der Selbstkontrolle, der ja nicht sehr gut funktioniert, denn ich bestelle eben statt eines Vierteles zwei Achtelliter, die nacheinander, obwohl das Trinken dadurch doch eine Verzögerung oder eher Ausdehnung erhält. Ich merke an mir, wirklich nicht zum ersten Mal, wie der mit immer noch einem Glas geförderte kalte Trunkenheitszustand, in dem ich sehr klare Gedanken habe, die vom Innendruck der Frustration gehärtet werden, mich langsam vom schmutzigen Kneipenboden hebt, unsichtbar, nur mir bekannt, nur um ein paar Millimeter, und diese Elevation hat nichts mit Unsicherheitsgefühl oder gar einem Schwanken, einem äußeren nicht und nicht einem inneren, an sich; je länger die Nacht wird, in der in der Kneipe und vor ihr auf dem Bürgersteig und der Straße sich eine dichte Menschenansammlung zusammenballt, die einen dunklen Sound hervorbringt, den die Songs und Musikstücke aus der lauten Plattenanlage – „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert ...“ – nur mühsam übertönen; dieser innere Zustand geht allmählich in eine zunehmende aggressive Entschlossenheit über. Bekannte kommen und gehen, ich rede mit ihnen, sie ziehen weiter, ich bleibe, zahle zwischendurch meine Zeche, lasse dann, meiner Bequemlichkeit und der des Barmanns zuliebe, anschreiben, vier, sechs, acht, zehn Achtele. Ich rede immer artikuliert, deutlich, führe meine Gesprächsgedanken in einer logisch stringenden Reihe. Irgendwann entdecke ich auf einer Bank hinter den Tischen an der Wand des Lokals einen jungen Typ mit fahlblonden Haaren; er sieht nicht besonders gut aus, aber irgendetwas an ihm reizt mich, ich nehme mein kleines Rotweinglas und setze mich neben ihn, spreche ihn mit irgendwelchen Worten, mit Kneipengerede, auf das es nicht ankommt, an, er läßt sich darauf ein. Gehören die Leute auf de anderen Seite des Tischs zu ihm? Mir ist das egal, ich beginne seinen Rücken, den Hemdrücken, zu streicheln und zu reiben, in dieser mit Heterosexuellen überfüllten Kneipe. Er läßt es sich gefallen. Ich bin darüber nicht erstaunt; das erstaunt mich etwas, in einer Ecke des Bewußtseins. Es ist weit nach Mitternacht. Der Rumor im Haus und vor ihm schwillt nie ab. Mir ist auch etwas geschwollen, ich versuche diesen jungen Mann, der, wie sich herausgestellt hat, aus bäuerlicher Umgebung kommt, davon zu überzeugen, daß wir zu mir gehen könnten. „Zu mir“, das bedeutet im Sommer 1984 nicht mehr das Kinozimmerchen im Dachgeschoß des „Urania“-Gebäudes, das ich, nach drei Jahren, im März räumte, sondern die Wohnung auf dem Hühnerfeld, in der meine Mutter lebte. Im Sommer 1984 ist sie seit einem halben Jahr tot. Diese Wohnung ist jetzt meine. Der Typ schüttelt geduldig nur den Kopf, erhebt sich aber nicht von meiner Seite, ich streichle ab und zu den Rücken, er sitzt ruhig am Tisch, redet wenig. Es muß ihm gefallen, was ich da treibe. Ich will es mit ihm treiben, er schüttelt den Kopf, sitzt nur gelassen neben mir. Irgendwann steht er dann doch auf und geht; zusammen mit zwei anderen. Also doch. Die mußten doch gesehen haben, was ich tat. Und rührten sich nicht. Mir ist wohl bekannt, daß es auch auf dem Land Schwule gibt. Ich bin bei meinem zwölften Achtele und noch immer nicht richtig betrunken. Ich bin ausgepolstert mit kalter Wut. Zebo, ein Bekannter aus Münster, Hauchler-Schüler, setzt sich für einige Minuten zu mir. „KD, deine Augen ...“ Ich war übermüdet und doch hellwach, in der Zwischenstimmung von Schlafenwollen und unbedingtem Erlebnisdrang, der einen immer weiter durch die Nacht treibt, dem Morgendämmer entgegen. Als er mit dünnem Sonnenlicht durch die offenen Kneipenfenster hereinhuschte, hatte ich einem anderen, unscheinbaren Typ, der mit zwei anderen an einem anderen Tisch gesessen hatte, schon seine künstliche wollige Hasenpfote, seinen Talismann, abgenommen, und machte ihm klar, daß er sie auf keinen Fall wieder zurückbekommen würde. Ich sprühte vor Aggressivität, die sich aber ganz ruhig vermittelte. Er wagte es nicht, handgreiflich zu werden, seine Begleiter ebensowenig. Ich wanderte ein bißchen vor dem Tresen herum, an dem Stehplätze sozusagen auffielen, und antwortete auf Bitten des jungen Mannes, ihm doch seine Hasenpfote zu geben nur mit gelassenem „Nein“. Jeden, der sich mit mir hätte anlegen wollen hätte ich, kalt überlegt, niedergeschlagen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Es war diese Rücksichtslosigkeit gegenüber mir selbst, die mein Verhalten auf glaubwürdige Weise bedrohlich wirken ließ. Ich trank noch immer Wein. Resignierend verließ der Hasenpfoten-Typ mit seiner Begleitung das Lokal, vor dem sich die anderen Zecher, denn ich war nicht der einzige, der die Nacht durchgesoffen hatte, aufstellten, um den G.H.F. anzugucken. Der zog dann mit Tschiderassabumm vorüber. Ich verweilte im „Alten Haus“. Wieder kamen Bekannte herein. „Mußt du nicht so langsam ins Kino?“ fragte jemand. „Ich habe soeben gekündigt“, sagte ich und war davon auch ganz durchdrungen. Nicht mehr länger sollte der doofe Job mich behelligen. Ich merkte, daß dieser Bekannte, kein Gesicht hatte er nun für mich mehr, mich für etwas unzurechnungsfähig hielt; das war mir wurscht. Ich dachte an Till und wie er diese Nacht vermutlich verbracht hatte. Ich ging dann. Die Rechnung von achtzehn Achtele ließ ich vorerst offen; ich hatte kein Geld mehr. Ich wankte, jeder Schritt war ein Willensakt, zum Mittelberg, zum Hühnerfeld hinauf. Schlief. Am folgenden Tag ging ich zur Arbeit. Höheren Orts hatte man Grund, sauer auf mich zu sein. Einen Kater hatte ich im Kopf und war übelgelaunt. Die Hasenpfote finde ich bei meinen Umzügen immer mal wieder.
- Unbeständiges Wetter, windig, dann sonnig, mit späterer Vertrübung, drückend-schwül ohne Gewitter.
6.7.2002
Am späteren Abend bin ich zum „Alten Haus“ in der Kolpingstraße vorgedrungen, dort bleibe ich. Mein Alkoholspiegel ist angestiegen, aber ich vertrage viel. Übung machte mich darin zum Meister. Nun bestelle ich aber „Achtele“ Rotwein, im versuchten Selbstbetrug der Selbstkontrolle, der ja nicht sehr gut funktioniert, denn ich bestelle eben statt eines Vierteles zwei Achtelliter, die nacheinander, obwohl das Trinken dadurch doch eine Verzögerung oder eher Ausdehnung erhält. Ich merke an mir, wirklich nicht zum ersten Mal, wie der mit immer noch einem Glas geförderte kalte Trunkenheitszustand, in dem ich sehr klare Gedanken habe, die vom Innendruck der Frustration gehärtet werden, mich langsam vom schmutzigen Kneipenboden hebt, unsichtbar, nur mir bekannt, nur um ein paar Millimeter, und diese Elevation hat nichts mit Unsicherheitsgefühl oder gar einem Schwanken, einem äußeren nicht und nicht einem inneren, an sich; je länger die Nacht wird, in der in der Kneipe und vor ihr auf dem Bürgersteig und der Straße sich eine dichte Menschenansammlung zusammenballt, die einen dunklen Sound hervorbringt, den die Songs und Musikstücke aus der lauten Plattenanlage – „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert ...“ – nur mühsam übertönen; dieser innere Zustand geht allmählich in eine zunehmende aggressive Entschlossenheit über. Bekannte kommen und gehen, ich rede mit ihnen, sie ziehen weiter, ich bleibe, zahle zwischendurch meine Zeche, lasse dann, meiner Bequemlichkeit und der des Barmanns zuliebe, anschreiben, vier, sechs, acht, zehn Achtele. Ich rede immer artikuliert, deutlich, führe meine Gesprächsgedanken in einer logisch stringenden Reihe. Irgendwann entdecke ich auf einer Bank hinter den Tischen an der Wand des Lokals einen jungen Typ mit fahlblonden Haaren; er sieht nicht besonders gut aus, aber irgendetwas an ihm reizt mich, ich nehme mein kleines Rotweinglas und setze mich neben ihn, spreche ihn mit irgendwelchen Worten, mit Kneipengerede, auf das es nicht ankommt, an, er läßt sich darauf ein. Gehören die Leute auf de anderen Seite des Tischs zu ihm? Mir ist das egal, ich beginne seinen Rücken, den Hemdrücken, zu streicheln und zu reiben, in dieser mit Heterosexuellen überfüllten Kneipe. Er läßt es sich gefallen. Ich bin darüber nicht erstaunt; das erstaunt mich etwas, in einer Ecke des Bewußtseins. Es ist weit nach Mitternacht. Der Rumor im Haus und vor ihm schwillt nie ab. Mir ist auch etwas geschwollen, ich versuche diesen jungen Mann, der, wie sich herausgestellt hat, aus bäuerlicher Umgebung kommt, davon zu überzeugen, daß wir zu mir gehen könnten. „Zu mir“, das bedeutet im Sommer 1984 nicht mehr das Kinozimmerchen im Dachgeschoß des „Urania“-Gebäudes, das ich, nach drei Jahren, im März räumte, sondern die Wohnung auf dem Hühnerfeld, in der meine Mutter lebte. Im Sommer 1984 ist sie seit einem halben Jahr tot. Diese Wohnung ist jetzt meine. Der Typ schüttelt geduldig nur den Kopf, erhebt sich aber nicht von meiner Seite, ich streichle ab und zu den Rücken, er sitzt ruhig am Tisch, redet wenig. Es muß ihm gefallen, was ich da treibe. Ich will es mit ihm treiben, er schüttelt den Kopf, sitzt nur gelassen neben mir. Irgendwann steht er dann doch auf und geht; zusammen mit zwei anderen. Also doch. Die mußten doch gesehen haben, was ich tat. Und rührten sich nicht. Mir ist wohl bekannt, daß es auch auf dem Land Schwule gibt. Ich bin bei meinem zwölften Achtele und noch immer nicht richtig betrunken. Ich bin ausgepolstert mit kalter Wut. Zebo, ein Bekannter aus Münster, Hauchler-Schüler, setzt sich für einige Minuten zu mir. „KD, deine Augen ...“ Ich war übermüdet und doch hellwach, in der Zwischenstimmung von Schlafenwollen und unbedingtem Erlebnisdrang, der einen immer weiter durch die Nacht treibt, dem Morgendämmer entgegen. Als er mit dünnem Sonnenlicht durch die offenen Kneipenfenster hereinhuschte, hatte ich einem anderen, unscheinbaren Typ, der mit zwei anderen an einem anderen Tisch gesessen hatte, schon seine künstliche wollige Hasenpfote, seinen Talismann, abgenommen, und machte ihm klar, daß er sie auf keinen Fall wieder zurückbekommen würde. Ich sprühte vor Aggressivität, die sich aber ganz ruhig vermittelte. Er wagte es nicht, handgreiflich zu werden, seine Begleiter ebensowenig. Ich wanderte ein bißchen vor dem Tresen herum, an dem Stehplätze sozusagen auffielen, und antwortete auf Bitten des jungen Mannes, ihm doch seine Hasenpfote zu geben nur mit gelassenem „Nein“. Jeden, der sich mit mir hätte anlegen wollen hätte ich, kalt überlegt, niedergeschlagen, ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Es war diese Rücksichtslosigkeit gegenüber mir selbst, die mein Verhalten auf glaubwürdige Weise bedrohlich wirken ließ. Ich trank noch immer Wein. Resignierend verließ der Hasenpfoten-Typ mit seiner Begleitung das Lokal, vor dem sich die anderen Zecher, denn ich war nicht der einzige, der die Nacht durchgesoffen hatte, aufstellten, um den G.H.F. anzugucken. Der zog dann mit Tschiderassabumm vorüber. Ich verweilte im „Alten Haus“. Wieder kamen Bekannte herein. „Mußt du nicht so langsam ins Kino?“ fragte jemand. „Ich habe soeben gekündigt“, sagte ich und war davon auch ganz durchdrungen. Nicht mehr länger sollte der doofe Job mich behelligen. Ich merkte, daß dieser Bekannte, kein Gesicht hatte er nun für mich mehr, mich für etwas unzurechnungsfähig hielt; das war mir wurscht. Ich dachte an Till und wie er diese Nacht vermutlich verbracht hatte. Ich ging dann. Die Rechnung von achtzehn Achtele ließ ich vorerst offen; ich hatte kein Geld mehr. Ich wankte, jeder Schritt war ein Willensakt, zum Mittelberg, zum Hühnerfeld hinauf. Schlief. Am folgenden Tag ging ich zur Arbeit. Höheren Orts hatte man Grund, sauer auf mich zu sein. Einen Kater hatte ich im Kopf und war übelgelaunt. Die Hasenpfote finde ich bei meinen Umzügen immer mal wieder.
- Unbeständiges Wetter, windig, dann sonnig, mit späterer Vertrübung, drückend-schwül ohne Gewitter.
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