26
Jun

26.6.2002

Ich saß am Tisch vor dem „Woodpecker“ und war in aufgeräumter Stimmung, denn Philip K. saß neben mir, auch er hatte, vor einiger Zeit schon, meine unnatürliche Aufmerksamkeit hervorgerufen, und ich glaube, er hatte das erkannt. Er hatte seinen Freund Markus K. mitgebracht; die beiden sollten im Film Mitglieder der „linken Gruppe“ spielen. K. und K. hatten, mit zwei anderen Schülern ihres Alters, deren Namen mir noch einfallen werden und die ich nötigenfalls in den Akten recherchiere, doch nicht jetzt, eine Rockgruppe gehabt, die sie im Frühjahr und Sommer `96 wiederbelebten, weil ich Philip im März gefragt hatte, ob sie mit mir zusammen eine literarische Veranstaltung bestreiten würden; sie hatten zugestimmt. Ich saß am Tisch draußen vor dem „Woodpecker“ in der Theaterstraße und plauderte mit Philip, als ein großer, sehr schlanker Blonder an unseren Tisch kam, etwas zögerte, sich auf einen freien Stuhl niederließ. Ich war sehr erstaunt, ich war mehr als das: eine euphorische Sekunde des Glücks fuhr durch mich hindurch; ich konnte es nicht glauben und glaubte doch in dieser Sekunde: an die Götter, an eine Macht, sei es des Zufalls, sei es des altmodischen Schicksals, an etwas, das Wünsche jedenfalls erfüllen konnte: der Blonde war der Engel aus dem Buchladen. Von der völlig jeder Erwartung entfernten plötzlichen Gunst, die mir gewährt war, in eine Forschheit, die mir sonst ganz fremd ist, hineingerissen, fragte ich ihn: „Wie heißt du?“ Der Blonde zögerte. Ich wiederholte die Frage, fröhlich herausfordernd, in diesem Sprechen war ich mit einem Mal frei wie kaum einmal in solchen Begegnungen, was mich für sehr, sehr kurze Zeit verwunderte. So etwas geschieht einem immer nur während weniger Lidschläge und bleibt doch ab diesem Punkt in der Zeit unvergeßlich, und während solches geschieht, weiß man gleichzeitig auch, daß so etwas so Wesentliches, das ins Leben wie aus heiterem Himmel – der Himmel jenes Tags war heiter – gefallen ist, bedeutet, daß es das Leben nun für immer beeinflußt, ob man das möchte oder nicht. Der Blonde sagte mit seiner schönen weichen Stimme, die vom Unterton des Dialekts noch anmutiger wurde: „Ich bin der Raphael.“ Ich wußte es: ein Engel war in mein Leben getreten.
- Warmer Tag. Fiel nicht ein kleiner Regenschauer? Wohl nicht. Der Tag war aber nicht durchgehend sonnig, mal wurde er düster, dann wieder hell. Sommerdämmerung.
26.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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