25.6.2002
Wenn ich mir in den neunziger Jahren Bücher kaufte, dann geschah das im „Insel“-Buchladen in der Ulmer Tor-Straße. Ich konnte wieder Bücher kaufen, denn seit ich die Literaturwerkstatt für Kinder in der Jugendkunstschule am Ort einmal in der Woche, ausgenommen waren die Ferienwochen, in einem Ganzjahreskurs „betrieb“, hatte ich Zusatzeinnahmen, die meine bis dahin ununterbrochen jämmerlichen finanziellen Verhältnisse, die mir nicht einmal kleinere Sprünge erlaubt hatten, aufbesserten. Eines Tages, Montages vermutlich, denn an diesem meinem damals einzigen freien Tag in der Woche tat ich so etwas Angenehmes wie einen Bücherkauf, der dem Tag eine feine besondere Färbung gab, betrat ich die kleine Buchhandlung und sah mich am Lyrikregal nach Lektüre um, als ich einen großen, sehr schlanken jungen Mann, der sechzehn Jahre alt sein mochte, Schüler, nahm ich an, hübsch, blond, mit länglichem Gesicht, das eine sehr helle Haut hatte, auch in der Art, wie er sich bewegte, ganz meinem Geschmack entsprach, an einem Regal in der Mitte des Ladens wahrnahm, der, als die Buchhändlerin M. ihn ansprach, ob sie behilflich sein könnte, mit sanfter und schöner Stimme,die mich sofort bezauberte, entgegnete: „Danke, ich seh‘ mich nur mal um.“ Er studierte die Bücher im Regal, ich ging auf die andere Seite zu einer anderen Bücherwand und tat, als interessierte ich mich in diesen Minuten für philosophische und theologische Themen, die in den Büchern dort schlummerten; warf zwei, drei Blicke, die üblichen, zur Seite, auf den Schüler mit der sanften Stimme, die schon in mir zu wirken begann. Ich brauchte keines der religionsgeschichtlichen oder -kritischen Bücher in die Hände zu nehmen, um zu wissen: ich hatte eine Begegnung mit einem Engel. So dachte ich, schon vom göttlichen Funken der Zuneigung, der sich in mich senkte, elektrifiziert; so empfand ich. Der junge Mann verließ den Laden, mein Gedanke war: wie kann ich ihn wieder sehen? In einer ein wenig extraordinären Befindlichkeit, in einer nur sehr zart gespürten Entrückung aus dem zuvor sehr alltäglich organisierten Bewußtseinszustand, die schon jeder, den der schelmische Eros mit seinem kleinen Pfeil traf, kennt, ging auch ich aus der Buchhandlung (mit Buch?), schritt ich durch die Straßen, stieg ich in den Bus; „werde ich ihn wieder sehen, und wann, wo?“ Und schon war auch dieses seit vielen Jahren unselig vertraute Bedauern da, ihn nicht angesprochen zu haben. Warum konnte ich das nicht?
- Bewölkt, mit weitflächigen weißen Himmelslandschaften, die unter blauem Gewölbe entweder still ruhten oder träge nach Osten schwammen; sehr warm.
25.6.2002
- Bewölkt, mit weitflächigen weißen Himmelslandschaften, die unter blauem Gewölbe entweder still ruhten oder träge nach Osten schwammen; sehr warm.
25.6.2002
25.06.