22
Jun

22.6.2002

Es ist eine meiner Charakterschwächen, daß ich schnell ungeduldig werde. Ich stellte das zuerst in den beiden letzten Jahren in der Schule fest, als im Deutschunterricht „Teamarbeit“ eingeübt werden sollte. Also hockten wir in Gruppen um Schultische herum und diskutierten erst einmal so ausführlich über das mit weißer Kreide an der dunkelgrünen Tafel an der Stirnwand des Klassenzimmers angeschriebene Thema, ehe jemand von uns – fast alle oder alle der Glorreichen Sieben saßen dann um einen der an der hinteren Wand stehenden Tische – damit anfing, aus dem Belaberten Sätze zu formulieren und diese auf Papier zu schreiben. Das dauerte keine fünf Minuten, da war ich schon gelangweilt und hatte die Leistungskraft meiner Aufmerksamkeitssensoren so reduziert, daß ich höchsten noch träge empfundene und ebenso ausgesprochene Gedanken hatte, als die anderen noch das Für und Wider des dialektisch zu bewältigenden Stoffes in seiner ausufernden Unübersichtlichkeit beredeten; weil ich schon aus vorherigen Bemühungen an anderen Vormittagen um „teamgerechtes Arbeiten“, es war eben als pädagogische Mode aufgekommen, die wohl ein Gemeinschaftsgefühl hervorrufen sollte, oder was auch immer, wußte, daß nichts „Gescheites“ herauskommen würde. Ich glaube, ich hatte keine große Lust dazu, die über die verschiedenen Heftseiten und Notizblockblättern verteilten „Arbeitsergebnisse“ dann in eine einigermaßen homogene Form zu bringen, überließ das anderen. Mit dem auf solche Weise zusammengefügten Text identifizierte ich mich keineswegs. Ich war der Ansicht, daß ich mit der jeweiligen Problematik allein Besseres zustande gebracht hätte. Wenn ich an etwas schrieb, dann sollte es auch als mein Text zu erkennen sein. Diese Art fortschrittlicher Pädagogik, die sich in solchen Unterrichtsformen auch selbst erprobte, hielt ich für unnötig. Ich hatte nicht die Geduld, mich durch diese durcheinander schwirrenden Ansichten und Ansätze zu kramen, sie zu bedenken, die falschen Gänge abzuschreiten. Es dauerte mir zu lange, bis man zu Potte kam, das halbgare Produkt war nicht nach meinem Gusto; denn mit etwas Geschmack durfte solch ein Sprachmenü ja angerichtet sein. Im übrigen sollte ich zugeben, daß auch ich immer meine Schwierigkeiten hatte, beim Verfassen von Deutschen Aufsätzen zu Potte zu kommen. Ich hatte Angst – ich hatte vielleicht keine Angst vor dem weißen Blatt, sondern ein starkes inneres Druckgefühl, das ich mit siebzehn längst kannte, das Gefühl, umso stärker unter Druck zu stehen, je länger ich vor dem leeren Blatt darauf wartete, ein Wort und den ersten Satz auf es setzen zu können; ein psychischer Propfen saß auf dem Behältnis, in dem der Text sich auszudehnen begann, jedoch noch ohne Syntax, ohne Stil, zusammenhanglos, und ließ den Druck, den dieser sich nebulös bildende Text verursachte, nicht entweichen. Einmal war meine Unfähigkeit, mit dem Schreiben zu beginnen (während vor und neben mir schon seit zwanzig Minuten eifrig gekritzelt wurde), so ausgeprägt, daß ich, als nach einer Dreiviertelstunde noch immer kein Textbuchstabe oben in der weißen Seite stand, mir sagte: „Ich gebe leer ab, das war’s. Mir fällt gar nichts ein.“ Dann, ich wußte nie, wie, kam der erlösende Augenblick, der ja stets kam, auf den ich aber elend lange warten mußte, in dem sich, ganz undramatisch, die Schreibblockade lockerte und ich anfangen konnte zu schreiben und dann in einem Fluß, ohne jemals in längeren Pausen den Gedankengang überdenken zu müssen, das Thema abhandelte. Ich habe solche Zustände noch heute und werde sie nie vermeiden können. Meine Ungeduld, mit dem Schreiben endlich anzufangen, verstärkte nur immer die Hemmung; ich wollte schon geschrieben haben, bevor ich zu schreiben begann. Der Text, der sich in mir als nichtgedachte vorsprachliche gefühlte Sphäre entwickelte, sollte, so wohl ist das zu verstehen, ohne Umweg über die Feinmotorik des Schreibvorgangs auf’s Papier springen. Oder wie sonst?
- Sonnig, zeitweise dunklere Wolken, die Schatten gaben. Heiß.
22.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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