21.6.2002
Als ich gestern am Abend in Prousts Essay „Über den ‚Stil‘ Flauberts“ gelesen habe und an die Zeile „Gewiß, wenn in einer sublimen Passage Madame Arnoux und Frédéric Sätze wechseln wie: (...)“ vorangekommen bin, ist in mir die Szene aufgestiegen, wie ich des Sommers 1974 auf der sacht nach vorn und wieder zurück schwingenden Polstersitzfläche der bunten Hollywoodschaukel saß, die auf dem länglichen Rasenstück vor der Westseite des Hauses in der Lindelestraße, das von der bräunlich-ockerfarbenen Fassade durch den mit Kies bestreuten schmalen Weg, der zur Südseite des Gartens verlief, abgetrennt wurde, stand, und Flauberts Roman „Die Erziehung des Gefühls“ (oder: „Die Erziehung des Herzens“) las. Diese Desillusionierungsgeschichte eines jungen Mannes, der aus der französischen Provinz in die Liebes- und Revolutionsunruhen in der Pariser Gesellschaft der Jahre vor 1848 gerät, schien mir, ungeachtet der rein literarischen Gründe, die mich dazu veranlaßten, meinen ersten Flaubert-Roman zu lesen, eine nützliche „korrigierende“ Wirkung auf meine gesellschaftsverändernden Intentionen, von deren Berechtigung ich ja sehr überzeugt war, insofern zur Verfügung zu stellen, als mir ebenfalls sehr bewußt war, daß all diese Hoffnungen und Träume, Utopien vielleicht doch, die auf den Willen der Menschen zu einer menschenwürdigen Gemeinschaft zielten, zu ihrer Erringung, an den beharrenden und ihre Macht auf die vielfältigste Weise einsetzenden Kräfte der alten Verhältnisse scheitern können. So kam es ja auch. Dieser Roman bestätigte auch meine damals schon immer vorhandene Skepsis, ob es gelingen könnte, den Alten Adam auf den Weg zum Neuen Menschen zu bringen, denn ich war als Linksaktiver alles andere als naiv. In jener Zeit las ich auch Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“, die sich mit dem marxistischen positiv-kämpferischen Denken und Handeln nun gar nicht vertrugen. Ich war eben auch der Ansicht, daß man ohne eine zumindest fragmentarische Einsicht in die bürgerlichen Äußerungsformen (Philosophie, Politik, Literatur, Kunst usw.) eine überwindende Alternative dazu gar nicht als zwingend notwendig einsehen konnte. Ich saß, manchmal mit den Beinen die Polsterschaukel, die meine Mutter in einem der Jahre zuvor gekauft hatte, in eine sanfte Bewegung versetzend, und blätterte eine Seite um die andere in diesem Buch um; hinter mir, am Holzzaun, blühten und dufteten die blaßroten Heckenrosen aus ihrem Gesträuch, das sich entlang des Zauns bis zum großen Baum, der verstümmelt war, weil ihm in den Sechzigern kranke Äste abgenommen worden waren, in der Mitte dieser Gartenseite zog; Wespen schwirrten in nicht ungefährliche Nähe heran, Fliegen, dicke, schwarzgrün schillernde Fliegen, störten meine sommerlich-ruhige Lektüre-Idylle mit ihrem häßlichen Zickzack-Sirren, ich schlug mit dem Buch nach ihnen. Hinter mir, hinter der Rückenwand der Schaukel, hinter Hecke und Zaun, fuhren in sommerlicher Langsamkeit die Autos die Straße hinauf und hinab, nicht sehr oft. Aus den umgebenden Richtungen verschiedene Geräusche aus anderen Gärten, die hier groß waren, das helle Surren eines Rasenmähers, oder leiser und lauter ab- und anschwellende Stimmen, mit einem Lachen dazwischen, in das ein Ruf fiel; feines, kaum zu hörendes Gläser- oder Flaschenklirren, das plötzliche Scharren eines harten Gegenstandes, vielleicht eines Gartentisches, der aufgestellt und in die richtige Ecke geschoben wurde; alles von der Entfernung und der warmen Luft so gedämpft, daß es meinem Ohr nicht lästig wurde und die Ereignisse im Paris der Vierziger des 19. Jahrhunderts, in die ich lesend verwickelt war, in unaufdringlicher Behutsamkeit in eine sommervorstädtische Gartenszene in der Mitte der siebziger Jahres des 20. Jahrhunderts einlullten; in solchen Umständen und auf solche Weise zu lesen kann ja zu einem leichten Trance-Zustand führen. (Der Titel meiner Erzählung übrigens, die ich in diesen Wochen schrieb, „Die Formierung der Gefühle“, verdankte sich, wie man sieht, diesem Roman Flauberts.)
- Mittags sonnig, nachmittags eher eingetrübt, und kühler der Tag als die dahin gegangenen. Gegen Abend versuchte das Sonnenlicht durchzubrechen, was ihm nicht so recht gelang.
21.6.2002
- Mittags sonnig, nachmittags eher eingetrübt, und kühler der Tag als die dahin gegangenen. Gegen Abend versuchte das Sonnenlicht durchzubrechen, was ihm nicht so recht gelang.
21.6.2002
21.06.