10
Jun

10.6.2002

Ich saß im Bus ganz hinten, wie es immer, oder doch sehr oft, meine Angewohnheit war, Montag Abend war es, wir hatten den Juni 1982, meine mit Lebensmitteln volle Tasche, in der eine volle Flasche (Wein oder Whisky, vermutlich beides) stak, lehnte neben mir auf dem Sitz neben meinem Sitz, es war 18 Uhr, der Bus der Linie, die sich hinauf ins Hühnerfeld und wieder hinunter in den Stadtkern wand, fuhr an, ich überflog den Nachruf auf den Filmregisseur R.W. Fassbinder in der „Frankfurter Rundschau“. –
Im Sommer 1976 zeigten die Filmtheaterbetriebe Kutter im „Urania“ Fassbinders neuen Film „Satansbraten“ mit Kurt Raab in der Hauptrolle, und der Meisterregisseur höchstselbst war angekündigt. Ich ging von der „Karga“ ins Kino hinüber, rechtzeitig, um noch einen, meinen, Platz zu bekommen; das war der erste in der Reihe ganz hinten im Saalabschnitt „Rücksitz II“, links außen, wenn man saß, also der erste rechts, wenn man den großen Saal betrat, vor der erhöhten Loge, deren Reihen sich wie die davor nach rechts durch den Zuschauerraum zogen, der im Stil der fünfziger Jahre geblieben war, mit hell- und dunkelblauen Wänden und ockergelben senkrechten Wandleisten auf der um einige Zentimeter von der Gebäudewand abgerückten hoch geschwungenen „zweiten“ Wand. Neben dem von mir fast immer, wenn ich ins Kino ging, was selten geworden war, eingenommenen Sitz verlief der sacht abwärts führende linke Gang, in einer Wandnische vor der während der Vorstellung geschlossenen schmalen gepolsterten Flügeltür war der Drehregler für die Lautstärkeregulierung eingebaut, an dem die Platzanweiserinnen manchmal fingerten; einem Film die richtige Lautstärke, nicht zu laut, nicht zu leise, zu gewähren, ist eine Kunst für sich; in späteren Jahren sollte ich sie in makellosen Perfektion beherrschen. Der Saal füllte sich mit gespannter Vorfreude, die in der Variante „bedeutender Abend mit Bewunderungsgruseleffekt“ über den kommenden, gehenden, sitzenden, sich erhebenden, weiter rückenden, sich einander zuwendenden Köpfen unsichtbar vibrierte, aus denen ununterbrochenes Murmeln aufstieg, das sich mit der Einlaßmusik (dem Kinomuzak), nicht mehr ganz aktuellen Instrumentals, zur typischen Vorstellungsouvertüre formte. Fassbinders Ruf als Wundermann des Neuen Deutschen Films und genialisch-homosexueller Kraftprotz der obsessiven Art war legendär. Leibhaftig sollte er in Biberach uns erscheinen. Irgendwo im Saal waren Freunde von mir, aber ich sah sie nicht. Ich stand auf und ging für eine Weile ins Foyer hinaus, wo sich vor der Kasse die Fassbinder-Gucker drängelten. Ich ging zurück, stand etwas herum, suchte mit den Augen bekannte Gesichter, drehte mich zur Saaltür und sah den Kinobesitzer mit Kurt Raab nahen. Ich wußte augenblicklich, daß Fassbinder nicht kommen würde. Der Kinobesitzer sah genervt drein und sagte etwas zu Raab, das ich nicht hörte, das das Foyergesumse überdeckte. Der Schauspieler gestikulierte trotzig-ängstlich, Adrian Kutter blieb mit ihm vor der geschlossenen Kassentür stehen, keine zwei Meter von mir entfernt (sie beachteten mich in ihrem Disput nicht), der ich etwas an die Wand gedrückt neben der Saaltür stand, zu der an Kutter und Raab vorbei die Filmbesucher einliefen. Neugierig geworden besah ich mir den Schauspieler, den ich aus anderen Fassbinder-Filmen kannte. Ich hielt ihn für ausgesprochen unsympathisch und er sah auch so aus wie in den Filmen, in denen er Unsympathen spielte. Oder auch nicht spielte. „Ich will sechshundert Mark, sonst geh ich in den Saal gar nicht erst rein!“ Er sagte das in einer Tonlage, die verriet, daß er diese Forderung inzwischen mehrmals gestellt hatte. Der Kinobesitzer schüttelte nur verbissen-verärgert den Kopf. „Sechshundert Mark! Oder ich verschwinde jetzt sofort!“ Stumm, mit eisiger Miene, drehte der Kinomann sich um, schloß die Kassentür auf. Beide bemerkten mich überhaupt nicht, sie waren von ihrem Zweikampf in Anspruch genommen. Kutter kam heraus und drückte dem unruhigen Kurt Raab ein paar – ich sah sie deutlich – Hundertmarkscheine in die Hand, Raab stopfte sie in eine Tasche seines Anzugjacketts und ging an mir vorbei, hinein in den Saal, eilig vom Kinomacher verfolgt, und ich wußte: es ging los.
- Mal Sonne, mal Regen, wechselhaft; nachmittags tröpfelte der Regen aus einer in Segmenten bläulichen Sonnenluft. Die sonnigen Viertelstunden dauerten nicht lange, abends blieb es verregnet. Zeitweilig windig.
10.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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