5
Jun

5.6.2002

Von Anfang bis Mitte Mai `74 hielt ich mich in Essen zu einer Funktionärsschulung in der Parteischule der DKP auf, vielleicht auch nur eine Woche. Das Geld für die Fahrkarte bekam ich in einer Wohnung in Ulm, von der Frau des Kreisvorsitzenden, dessen Namen ich weiß, aber nicht angebe. Sie und er hatten einen Sohn und eine Tochter; der Sohn, mit gleichem Vornamen wie der Vater, hatte die DKP-Gruppe in Biberach nur einmal wegen eines parteistärkenden Vortrags besucht, der Vater kam öfter, meistens mit Frau. Die Reise nach Essen bezahlte die DKP, die in Düsseldorf als Zentrale ein Haus besaß, in dem der Parteivorstand tagte; und die Reise wurde auch von der Partei bezahlt, die ihr ZK in Ost-Berlin hatte. Ich zog meinen weißen Jeansanzug an und den weißen Mantel darüber, nahm die Reisetasche und fuhr mit dem D-Zug nach Essen, stieg dort aus, ging durch die Fußgängerzone und kam auch bald im Gebäude der Parteischule an, das im Zentrum von Essen stand. Das Haus glich von außen eher einem Knast: alle Fenster des Erdgeschosses waren mit starken Gittern versehen, die Tür eine Stahltür, mit einer Portiersloge dahinter, in der, wie ich dann in den Tagen feststellte, Ein- und Ausgang kontrolliert wurde; man hatte sich dort, ganz ähnlich wie in einer von mir früher frequentierten Einrichtung, abzumelden, wenn das Gebäude verlassen wurde, und wenn ich nicht irre, war auch der Grund der vorübergehenden Abwesenheit anzugeben. Das befremdete mich zunächst, war dann aber kein Problem mehr, diente es doch alles der Sache, und eine gewisse Vorsicht war am Platze, war die Parteischule doch schon zweimal Angriffsziel von Alt- und Neu-Nazis geworden, und deshalb auch die Vergitterung. Während der Tage wurde in verschiedenen Arbeitskreisen die Geschichte der Arbeiterbewegung, marxistisch-leninistische Theorie und Praxis, die aktuelle politische Situation, Aspekte der DDR-Politik diskutiert und gelehrt; und Filme der DDR-Defa mit revolutionärem Pathos angeguckt; ich lege Wert auf die dialektische Zweideutigkeit des Nebensatzes nach dem Semikolon. Ich saß da als Kleinstadtsozialist unter Genossinnen und Genossen, die überwiegend aus den Großstädten stammten und langweilte mich ein wenig, weil ich so vieles vom Stoffangebot kannte; und fühlte mich bald nicht sehr gemütlich, betrachtete den Lehrgang als Zeitverschwendung. Aber ich hatte in Ulm eingewilligt, nun mußte ich das absitzen. („Und dann gehst du nach Ostberlin, aber darüber sprechen wir noch“, hatte die Genossin während des Kaffeeplauschs, in dessen Gemütlichkeit das Geld zu mir herübergekommen war und ich den Empfang quittiert hatte, munter-fröhlich gesagt. In meinem Kopf hatte es aufgeschrillt, Alarmsignale ... „Mal sehen“, hatte ich ausweichend entgegnet und schon gewußt, daß ich nicht nach Ostberlin gehen würde; auf die dortige Parteischule.) Hörte mir an, was kampferprobte ältere Ex-KPD-Genossen an Erfahrungen mit dem Klassenfeind, inklusive Gefängnisstrafen, weiterzugeben hatten. Auch hier wurde von Stalin lieber nicht gesprochen, und wenn, dann ausweichend. Mir behagte die Enge des ständigen Aufeinandersitzens nicht und auch die in manchen Köpfen nicht, und bekam für zwei Tage psychosomatische Herzbeschwerden, lag, mütterlich betreut von einer Genossin um die dreißig, zeitweilig auf meiner Pritsche und atmete schwer. Davor und danach ging ich in Essen für ein paar Stunden aus. Ich besuchte R.M, einen der Mitarbeiter der SFT, der in einem anderen Teil von Essen wohnte und seinen Medizin-Doktor machte, wir unterhielten uns für eine Stunde über die Zeitschrift und linke „Strömungen“, denn er stand bei der „nichtrevisionistischen“ Fraktion, einer vom „chinesischen Modell“ überzeugten marxistisch-leninistischen Gruppe, wir kamen aber miteinander aus. Ein anderer frühabendlicher Ausgang galt dem neuesten Jean-Paul Belmondo-Film „Le Magnifique“, einer Agentenkomödie, in der deutschen Version. Ich amüsierte mich nicht schlecht. Als ich aus dem Kinopalast – so etwas gab es ja in Biberach nicht – in die noch helle Dämmerung trat und in meinem Jeansanzüglein, sehr eng saß die Hose, durch die Straßen eilte, hielt ein Sportwagen an der Straßenseite an, ein Typ mit halb-langen Haaren und älter als ich, öffnete die Beifahrertür, sah auffordernd zu mir herüber. Ich hatte keine Lust, mich auf ein Lustabenteuer einzulassen, schüttelte nur den Kopf, kommentarlos, ohne seine Miene zu verändern, schlug der Sportwagentyp die Tür zu und brauste weiter. Außerdem ließ ich mich nicht gern als Stricher einschätzen. Von diesem Thema war auch eines Nachmittags in der Parteischule zu hören. In Düsseldorf hatte ein schwuler Genosse als Kassierer Parteigelder veruntreut, weil er erpreßt worden war. Was tun? Ich mischte mich nicht ein, verfolgte die Debatte aufmerksam. Ausschluß aus der Partei oder andere „Maßnahmen“? Man einigte sich darauf, ihm den Posten, nicht aber die Mitgliedschaft zu nehmen. Das führte zu Diskussionen, wie Kommunisten mit der Homosexualität umgehen sollten, ich habe keinen Wortlaut mehr im Kopf. Für die Altkommunisten kein gutes Thema, angesichts der Homosexuellenverfolgung in der vorbehaltlos als Musterland gepriesenen Sowjetunion. Ich hörte gut zu. Man wand sich ziemlich in dieser heterosexuellen Sozialistenversammlung, das Thema war ja auch nur ein „Nebenwiderspruch“, also erst einmal von nicht so großer Wichtigkeit. Für mich schon. Sehr viele Schwule dürften nicht in der DKP gewesen sein. Die Diskussion verläpperte sich im Hin und Her; man solle nicht diskriminieren, war der gemeinsame Nenner, aber für Parteifunktionen kämen Homosexuelle vielleicht und eher doch nicht ganz so in Frage. Soso. Überraschte mich nicht. Eines Nachts prügelten sich einige kommunistische Machos sozusagen um das Recht der dritten oder vierten Nacht mit diversen Genossinnen. Am nächsten Tag war die Stimmung gedrückt, die Schulleitung sprach Rügen aus. Ein Kommunist benehme sich anders. Ich fand’s unmöglich.
- Sonnig, am späteren Nachmittag zog eine gräuliche Wolkenschicht unter den Sonnenschein, der ab und zu noch ein Loch fand. Kein Gewitter aber, kein Regen.
5.6.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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