21
Mai

21.5.2002

Arndt – schwarz wallendes Haupthaar, schwarzer Bart um das wölfische Grinsen – unterschrieb auf der Liste als erster. Arndt hatte als Fünfzehnjähriger, Mitte der sechziger Jahre, ein Motorrad gehabt und war damit durch eines der Fenster des Cafés „Lieb“, das bis zum Ende der Siebziger am Ostausgang des Marktplatzes von Biberach Kaffee und Kuchen servierte, unter dem Kirchturm von St. Martin, gesegelt. Ich lernte ihn 1972 im „Strauß“ kennen. Er kratzte seinen Lebensunterhalt als Flohmarkthändler zusammen und wohnte in der Mitte der siebziger Jahre in der Karpfengasse 24. Anfang der Achtziger betrieb er die Kneipe „Zum Schiff“ in einem südöstlichen Winkel der Innenstadt. Er malte, drehte schräge Super-8-Filme; einen, „Das Schwein“, sah ich mir 1982 im „Schiff“ an. Heiratete eine Lehrerin, die zwei Kinder bekam, sie kauften im Dorf Schemmerhofen nördlich der Stadt ein Haus. Er begann auszustellen. In der Mitte der neunziger Jahre fing er an, große Holzskulpturen zu sägen, zu schnitzen, zu bemalen, an die er Rudimente des bäuerlichen Lebens seiner Gegend hing. Im März 2000, als ich schon in Berlin lebte und meine Biberacher Zeit beendet war, stellte er eine Reihe seiner übermannshohen Skulpturen in den Hintergrund eines großen Raums, Schmidt zeigte, während ich Gedichte las, seine Dias von Biberach und Oberschwaben, ab und zu beleuchtete Arndt seine Holzdämonen mit zierlichen Scheinwerfern, vom Fußboden schräg nach oben. Ich nannte das „Rückbilder auf eine Provinz“. – Am zweiten oder dritten Abend trat Markus M. in unseren schummrig dunklen Club und vor die Theke, ein Typ von achtzehn, neunzehn Jahren, krause schwarze Locken, verhaltene Aggressivität im Gebaren, mit einem Stapel Jazz-LPs unter dem Arm, die er unbedingt sofort gespielt haben wollte. Er brannte darauf. Ich wechselte erste Worte mit ihm, ich erkannte einen wilden, noch wenig gebändigten Charakter, seine Unbedingtheit, die mühsam gezügelte Energie waren beeindruckend. Eindeutig hetero, ein Macho. Der Typ sprühte Energie. Wir unterhielten uns. Er wollte seine Platten auflegen. Ich ließ ihn hinter den Tresen, das mochte Falk nicht gerne sehen. Zwei Leute, die sich, wie sich herausstellte, nicht gut vertrugen. Überhaupt war ich der Moderierende, wenn zwei aneinander gerieten; nicht nur im Club. Unser neues Mitglied M. legte seine Platte auf, „Love for Sale“ erschallte machtvoll im Gewölbe, und mir gefiel’s. (1968 hatte ich zum ersten Mal die Jazzsendung des Österreichischen Rundfunks mit Gerhard Bronner am Mikrofon, am Dienstag Abend, gehört.) „Love for Sale“ und nichts anderes blieb mir als Erinnerungsmusik an den Club Impuls im Ohr. Markus M. kam oft, einmal erschien seine Mutter, eine Biberacher Verlegerin, deren Namen dem meinen ähnelt, herunter, suchte ihren Sohn, an diesem Abend hatte ich ihn nicht gesehen; oft kam er in Begleitung von Konrad H., einem Bayern, der sah nicht übel aus und war mir ziemlich sympathisch. Beide wohnten 1976, 1977, 1978 in der Karpfengasse 24. Längst hat Markus M. seine eigene Latin-Jazz-Gruppe, die seit Jahren „Gigs“, Auftritte, hat und auch CDs veröffentlicht: „Latin Love Affair“. – Leute, die viel später zu den ersten Grünen in Stadt und Kreis gehören sollten, kamen. – Bezeichnenderweise kamen meine Genossen nicht in den Club. – Wir verkauften Bier, Wein, Sauren Fritz, Klaren; Schmalzbrote, kalte Würstchen mit Brot und Senf, saure Gurken, Süßwaren in Riegelform. – Manchmal erlitt der Ölofen eine Verpuffung, das Gewölbe füllte sich dann mit unangenehmem Ölrauch, und es dauerte, bis der in die Wand eingebaute Lüftungsventilator ihn hinaus schaufelte, auch die Eingangstür stand dann sperrangelweit offen. Die Gäste nahmen solche Zwischenfälle ohne Murren hin. – Toiletten gab es nicht, wer pinkeln mußte, tat das oben in der Dunkelheit – die funzlige Lampe über der Eingangstür warf kein starkes Licht durch die Nächte –, fräste seine gelbe kleine Schlucht in den Schnee, von dem es in jenem Winter reichlich hatte. – Falk und ich wechselten einander an der Tür ab, wenn es galt, für den Film zwei DM Kostenbeitrag zu erheben. – Am späten Nachmittag des ersten Sonntags im Jahr 1974 ging ich in der einsetzenden Dämmerung von zuhause über den Gigelberg durch frisch gefallenen Schnee zum Club. Es war ein sehr ruhiger früher Abend auf diesem breiten Hügel mitten in der Stadt. Ich stapfte die schmale Stiegentreppe hinunter, die vom asphaltierten Hauptweg – der eine Zickzacklinie zum Talboden und zur Theaterstraße ausführte, links vorbei am damals noch bestehenden Stadtgarten, einer durch eine Mauer in sich geschlossenen floralen Anlage – abzweigt und hinab zu der Straße abfällt, deren Namen mir nun nicht einfällt, die rechts des Stadtgartens zur Theaterstraße verlief und noch verläuft, obwohl vom Stadtgarten seit Jahrzehnten nichts mehr übrig ist, und wandte mich dann auf halber Höhe dieser Treppe nach rechts und schritt aus dem Schnee in die schneefreie Zone unter der auskragenden Terrasse, die nur als Flachdach wahrgenommen wurde, schloß die schwere Tür zum Gewölbe auf, hörte, als ich eintrat, Musik von unten herauftönen, auch war das Treppenlicht eingeschaltet; was zum Teufel war da los? War Falk schon mit dem Aufräumen zugange? Das hielt ich, wie ich ihn kannte, für unwahrscheinlich. Ich wappnete mich innerlich, stieg in die nach Feuchtigkeit und kaltem Kneipenrauch riechende „Gruft“ hinunter, ging um die Ecke: alle Lichter brannten, Jazz spielte ohrenbetäubend, eine Figur mit langen gewellten Haaren drehte sich um, erkannte mich, ich erkannte ihn – Manfred K., der junge hübsche Friseur und Schlagzeuger, stand vor mir. Er ging zum Plattenspieler, stellte den Jazz ab. „Was machst du denn hier?“ Meine Frage kam ausnahmsweise aus echtem Erstaunen. Er grinste gleichmütig. „Ihr habt mich eingeschlossen. Ich bin da hinten auf der Matraze eingepennt. Niemand hat mich geweckt.“ „Kann doch nicht wahr sein! Und wenn ich jetzt nicht aufgetaucht wär?“ „Na ja, irgendwer wird schon kommen, hab ich mir gedacht. Hab mich in der Zwischenzeit nützlich gemacht.“ Am Sonntag war der Club nicht geöffnet. Bis zum SDAJ-Gruppenabend war es noch ein paar Tage hin. Hätte ich nicht den pflichtbewußten Drang verspürt, den Club ein bißchen aufzuräumen, er wäre Tage und Nächte in diesem Loch geblieben. Verhungert und verdurstet wäre er zwar nicht, aber unauffindbar gewesen. Vielleicht hätte ihn ein Spaziergänger schreien gehört, oben hinter der Tür. Ein Telefon gab es im Club Impuls nicht. Ich sah, daß er benutzte Gläser abgewaschen und geleerte Flaschen hinter der Theke zusammengestellt und die jeden Abend überbordenden Aschenbecher geleert hatte. Auch schienen die zwei Tischchen abgewischt worden zu sein. Ich gab ihm einen Drink aus, eine sinnlose Geste, weil er sich selbst bis zum Umfallen hätte bedienen können. Ich glaube, ich lud ihn sogar zum Essen in den „Strauß“ ein.
- Bis zum späten Nachmittag warm und sonnenhell, dann ein wenig Vertrübung, durch die immer wieder das Sonnenlicht fiel.
21.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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