6
Mai

6.5.2002

In 21 Jahren meines Lebens war ich ein steter Kneipengänger. Im „Strauß“ begann das. Wenn ich daran denke, wie oft ich hinter dieser grauen Mauerecke – der Verputz dieses Gebäudes ließ es fast unansehnlich wirken, aber in jener Biberacher Zeit war die Stadt noch nicht so hell-pastell herausgeputzt wie in den heutigen Tagen, in der ganzen Innenstadt dominierte diese trübe Farbe, die diese alte Reichsstadt in Herbsttagen wie mit der Patina versunkener Jahrhunderte bestrich – saß !; denn an eben dem Tisch, der hinter ihr im „Strauß“ stand, saß ich sehr oft, dort war einer meiner Lieblingsplätze im „Strauß“, weil ich von ihm aus, im Halbdunkel des Gastraumlichts sitzend, denn das warme Lampenlicht über dem großen Tisch in der Mitte und das über dem Ecktisch links von diesem Platz in der hintersten rechten Ecke und auch das über dem kleinen Tisch, der direkt vor der Tür zum Nebenzimmer stand, drang nicht in voller Helligkeit heran, sodaß, wer dort saß, in einer schummrigen Zurückgezogenheit auf sein Bier oder Glas Wein wartete, das ganze Innenleben des „Strauß“ überblicken konnte.
Wenn ich in meiner Erinnerung an diesem Tisch sitzen bleibe und nicht zu einem der andern gehe und mich dort niederließe, wenn ich also aus dieser Perspektive den Gastraum beobachte, die, die in ihm sitzen, gehen, stehen, hereinkommen und hinausgehen, sagen wir: an einem Abend im Mai 1973 oder 1974, dann stelle ich fest, daß der Anblick der meisten dieser Körper und Gesichter mir vertraut ist, weil ich sie seit langem in ihren Haltungen, Bewegungen, Bekleidungen, in ihrer Mimik und Gestik kenne, denn wie ich gehen auch sie so häufig in den „Strauß“, daß ich meinen könnte, wir alle zählten zu einer Sippe vielleicht sogar. Es gab natürlich immer „Strauß“-Gäste, mit denen ich nie ein Wort wechselte. Aber begegnete man sich in der Stadt und ging man grußlos aneinander vorüber, was nicht hieß, daß das achtlos gewesen wäre, sondern es war nur der üblichen Distanzhöflichkeit geschuldet, dann wußte doch jeder vom anderen: „Der hockt auch jeden Tag im Strauß“, und ein bißchen Verbundenheitsgefühl stieg im Bewußtsein auf, während jeder seiner Wege ging; und ich behaupte, diese Verbundenheitsempfindung war, obwohl sie klein blieb, komprimierter als bei Stammgästen anderer Kneipen, denn allein daß jemand in den „Strauß“ ging, bedeutete, daß man von ihm annehmen konnte, daß auch sein Denken und seine Stimmungsfrequenz insgesamt auf der Wellenlänge lag, die jene Jugend für sich in Anspruch genommen hatte, die sich aber so was von deutlich von den Altvorderen und von spießigen Gleichaltrigen unterscheiden wollte. Und zu dieser Jugend kamen Ältere, die ihre frischen Ideen im Kopf mitbrachten; der Künstlerstammtisch, um den trotz dieser Bezeichnung gar nichts Dumpfes war, tagte im „Strauß“; und so entstand ein Fluidum, in dem und mit dem man sich gegenseitig beeinflußte und zum Leben antörnte. Dennoch – auch im „Strauß“, ich will es nicht verschweigen, gab’s langweilige Abende, in denen kein Gespräch einen Funken ergab; und manchmal hockte ich, frustriert, allein nach dem Kinobesuch an einem der Tische, das Lokal war, an einem Dienstag Abend (auf die nächtlichen Straßen fiel Landregen) spärlich besucht, zum Reden hätte ich keine Lust gehabt, und Barbara, die hoch gewachsene schlanke Wirtin mit den rassigen Gesichtszügen, trat an den Tisch heran und fragte rein rhetorisch, denn sie kannte meine Vorlieben seit Jahr und Tag: „Heilbronner, Klaus?“ Und ich nickte nur und sie ging und wußte, daß ich schlechte Laune hatte.
- Zunächst blieb’s trüb. Über die Mittagszeit lichtete sich’s auf. Bis zum Abend Sonnenschein.
6.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6807 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren