3
Mai

3.5.2002

Abends in den „Strauß“ zu sitzen war 1973 schon zu einem Verhalten geworden, das man gar nicht mehr befragte. Auch zu einem Ritual. Zu keiner der anderen Kneipen, die ich in den Jahren und Jahrzehnten meines Lebens in Biberach danach aufsuchte, hatte ich so ein inniges, ja intimes Verhältnis wie zum „Strauß“, der Gaststätte, die in Jahrzehnten, die vor meiner regelmäßigen Frequentierung lagen, zur „Brauerei Strauß“ gehört hatte, deren Kesselhaus, wie ich auf einer alten Fotografie, in einer Zeit später, als der „Strauß“ nicht nur für mich seine Bedeutung verloren hatte, sah, auf der anderen Seite der wirklich nicht breiten Consulentengasse gestanden hatte. In den Jahren, in denen ich abendlich und täglich – den Ruhetag am Donnerstag ausgenommen, und tatsächlich ging ich auch nicht wirklich jeden Tag hinein, aber fast – den langen Gastraum betrat, trank man in ihm das „Gögginger Bier“; von einer Brauerei im südwestlichen Zipfel von Oberschwaben, deren genaue Lage wir, und warum hätte sie uns auch interessieren sollen, Hauptsache war, daß das Bier mundete, damals nicht kannten; erst in den Neunzigern, erst, als alles das, was in den Siebzigern im „Strauß“ geredet, gelacht, agitiert, gedacht, getrunken worden war, sich seit langem nur noch als Erinnerungspartikel in meinem Gedächtnis festgesetzt hatte, fuhr ich einmal, als Manfred S. und ich in seinem Auto eine Spritztour zum Rheinfall bei Schaffhausen unternahmen, an eben dieser Brauerei vorbei. Beide erinnerten wir uns im gleichen Blick. „Von da also kam das gute Gögginger her“, sagte ich versonnen; ein paar Bilder aus jenen Abenden und Nächten legten sich zwischen die Landschaft, durch die wir fuhren, und meinen Augen.
Wie oft schon habe ich bedauert, daß ich damals keine Fotos vom „Strauß“ machte, festhielt, wie es in der Gastwirtschaft aussah! Auch keine Außenaufnahmen aus seiner Zeit Anfang der siebziger Jahre habe ich. Die Selbstverständlichkeit, mit der in ihn hinein- und hinausgegangen wurde, in der wir in ihm hockten, die Tatsache, daß er eben da war, ließen mich nie auf den Gedanken kommen, er könnte eines Tages verschwunden sein. Man nahm sehr vieles selbstverständlich in den jungen Jahren und dachte noch nicht daran, daß man sich eines Tages an etwas, das als das Natürlichste erschien, überhaupt erinnern würde, gar wollte. Dachten und handelten andere „Strauß“-Geher je anders, gibt es diese atmosphärischen Dokumente, die ich vermisse? Aber könnten uns Fotografien von einem oder mehreren der Abende im „Strauß“ uns die Wahrheit über die Stimmung in diesem für mich – und ich weiß: auch für andere – immer ein besonderer Aufenthaltsort gebliebener Raum in der Biberacher Zeit vermitteln; die vibrations, in denen er unsichtbar im Zeit- und Empfindungsgefüge, mit uns, die wir ihm unsere Stimmungen und Gedankenflüge zukommen ließen, indem wir in ihm und seinen Schwingungen uns aufhielten, seine Aura entfaltete? Proust mochte den Realismus, den die Photoplatte lieferte, nicht; „weil sie [die photographische Aufnahme] niemals zwei verschiedene Oberflächen oder Gegebenheiten vergleicht, kann sie keinen Zugang zu der Wahrheit bieten, die in das Blickfeld rückt, wenn man über die Zufälligkeit hinausgeht, auch wenn man dies dadurch erreicht, daß man zwei Photographien – oder Erinnerungen – einer Person in verschiedenen Umständen miteinander vergleicht“, wie Hayman Prousts Auffassung paraphrasiert. (Vgl. Hayman, Ronald, Marcel Proust, suhrkamp taschenbuch 3311, S.503.) „Die Menschen verändern uns gegenüber unaufhörlich ihre Position. In der zwar unmerklichen, aber unablässigen Bewegung der Welt betrachten wir sie in einem Augenblick, der zu kurz ist, als daß wir die Bewegung feststellen könnten, die sie vorantreibt, als unbeweglich. Wir müssen jedoch aus unseren Erinnerungen nur zwei zu verschiedenen Zeiten aufgenommene Bilder auswählen, die für sie so weit ähnlich sind, daß sie sich an sich nicht verändert haben, zumindest nicht merklich, und der Unterschied zwischen den beiden Bildern wird zu einem Maßstab für die Veränderung, die sie uns gegenüber vollzogen haben“, wie Proust selber formuliert. (Vgl. Haymann, a.a.O., S. 503; vgl. Proust, Marcel, Brief an Henry Ghéon, 2.1.1914, Corr., XIII., S.23.) Ich überlasse es der Leserin und dem Leser, darüber zu grübeln, ob die Fotografie nicht doch diese kleine Veränderung und die Wahrheit, die sie in sich trägt, leisten kann, aber wir müssen nicht erst Proust bemühen, wenn wir an der Wahrhaftigkeit von fotografischen Aussagen zweifeln; es ist uns möglich, aus diesen scheinbar so unverrückbar bleibenden „Zeitdokumenten“ eine beliebige Variation jener einstmaligen Sekunden herzustellen, bis eine dieser Möglichkeiten einer Situation uns in die – in der Regel dunklen – Zwecke paßt. Auch mit solchen Mitteln verändern die Technologien das, was mangels einer „harten“ Definition Zeit geheißen wird, die sich anhand dessen, was in ihr geschah, darstellt; und natürlich auch die Zeit, die ihre Lebensformen entwickelt hatte, bevor diese Technologie sie rückwirkend so arrangieren, daß die Historiker eines anstrengenden Tages Schwierigkeiten haben werden mit den Umschreibungen dessen, was sie „Geschichte“ nennen, weil ihnen – die Zeit dafür fehlen wird. Das wird dann die Zeit neuer dogmatischer Axiome sein. Aber ich will mich hier nicht leichtfertig in halbphilosophischen Sentenzen verlieren.
Ich muß also geradezu froh darüber sein, keine Fotografie vom Innenleben des „Strauß“ zu besitzen, denn sie könnte mir die erinnernde Imagination auch blockieren und sie um diese einzige von ihr angebotene Augenblickslage herum organisieren und andere Erlebnisse und Ereignisse – den Unterschied zwischen beiden erörtere ich nicht – zurückdrängen, vielleicht sogar vernichten. Weil die Erinnerung an das „Strauß“-Leben sich in mir tatsächlich immer wieder in neuen Konstellationen zusammenfügt, bewahren sie mir auch den Eindruck der Lebendigkeit, die an dem damals wichtigsten Ort der „Szene“ in der kleinen Stadt herrschte; das feeling der vibrations, die an diesem Ort durch die Seelen und Bewußtseine – möge sich jeder nun aussuchen, was ihm zutreffender zu sein scheint, die Erinnerung an diesen Ort läßt mich großmütig werden – zitterten.
- Vor allem war der untere Himmel mit nicht ganz dichten weißlich-grauen Wolken zugezogen, durch die etwas Bläuliches da und dort schimmerte.
3.5.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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