5.4.2002
Tiefgründig liegt das Wort vor dem Auge. Tauchte man zu tief hinein, erhöhte sich jedoch der Gedankendruck und man käme mit dumpf-dummem Kopf wieder aus ihm herauf. Das und der Umstand, das ich nicht schwimmen, noch weniger tauchen kann, veranlaßt mich, nur mit seiner verlockenden Oberfläche ein wenig zu planschen, zu plauschen, mit diesem Schreibstift – Stabilo point 88 fine 0,4; Art.No. 88/36 pp [Strichcode] 4006381105255 – ein bißchen in sie hinein zu stechen, sie mit ihm sachte zu rühren, diese papierene Oberfläche, die sich während dieser kleinen Bewegungen als die sich nun stetig erweiternde Oberfläche dieses Worts – und tiefere Erkundung, die aber bis hierher noch nichts ans Licht gefördert hat – zu erkennen gibt. Eigentlich entspricht das nicht den Tatsachen, denn es ist die Unterfläche, das Papier ist die Unterfläche, der Malgrund für das Wort; die imaginär bleibenden Reflexionen des Worts verbreitern und verlängern es mit ihren Anhängseln. Hm. Ich will nicht zu tief gehen, zu deutsch dabei werden. „Seelenfortschritt“ ist, vielleicht wird der Begriff so faßbarer, das Ergebnis einer intuitiven Leichtigkeit gewesen, mit der sich die alt vertraute „Bewußtseinsveränderung“ mir plötzlich erweiterte. Man redete ja vor dreißig Jahren unentwegt von „Bewußtseinserweiterung“ und „Bewußtseinsveränderung“; wobei die erste Vokabel eher eine des Hippie- und Haschischanteils jener jungen Generation gewesen war, die aber von der zweiten gar nicht so fern lag, die den bewußtseinsbildenden Maßnahmen (zumindest Absichten) der linkspolitischen Intelligenzia näher kam. Diese Forderung nach Bewußtseinsveränderung – indem ich gestern eine erfahren habe, offensichtlich, und endlich – hat sich etwas verändert, nein: wurde erweitert und angereichert (das ist das Wort) von dem Erfahrungsmaterial, das sich in diesen dreißig Jahren klammheimlich überall um diesen alt gewordenen Begriff ansammelte und ist mit diesem Funken Intuition auf ihn übergesprungen; hat ihn belebt, aufgefrischt und gleichsam gesellschafts-natürlich den – wir wollen nun nur diesen politisch relevanteren zweiten Begriff und seine Verwandtschaftsnähe zu Marxens Diktum „Das Sein bestimmt das Bewußtsein“ berücksichtigen – rationalistischen Kern um die Restmetaphysikalischen Elemente ergänzt, Teilchen, deren Entdeckung vor drei Dezennien noch nicht recht möglich war, vermutlich, weil noch zu viel Minderheitsirrationalismus herumschwebte und viel verbarg. Wie dem auch sei: In jedem Modell der Welt- und Worterforschung schwirrt ein Quäntchen Unerklärlichkeit.
Ich tendiere allerdings heute zu einer Form des Umgangs mit dem Wort „Seelenfortschritt“, wie sie Volker Braun mit dem zweiten Teil dieses eventuell Substantielles beinhaltenden Substantivs exerziert: „Fortschrott!“ (Ich setze einmal voraus, daß die Braunschen Ausführungen über die DDR, „Deutsche Demokratische Republik“, wie inzwischen vielleicht doch erklärend eingeschoben werden sollte, die Nach-DDR und den vom Sozialismus befreiten freien Westen bekannt sind. Das ist aber gar nicht unbedingt erforderlich, weil die Ironie auch den Rest des Bedachten erahnen läßt, und Zeitungen mit Artikeln über die Ursachen der Implosion der zweiten deutschen Republik las ja eigentlich jeder. In manchen stand sogar etwas Zutreffendes drin.) „Fortschrott! Fortschrott!“ Es wäre tatsächlich angebracht, wenn ich nach meinem Ausflug in nebulöse Sphären einige Zeilen weiter oben mit dem Wort „Seelenfortschritt“ ähnlich verfahren würde, etwas Derridadasche Dekonstruktion üben würde. „Seelen! Fort! Schrott!“ Was hielten Sie davon? Ganz konnte ich mich der alten Aversion gegen alles „Seelische“ offenkundig nicht entledigen. Könnte man meinen. Ich meine jedoch, den kritischen Unterton doch zu hören: Denn wie viele Seelen werden ununterbrochen verschrottet, verschrotet ... Schon bin ich wieder bei den künftigen Menschenmaschinen und Maschinenmenschen angekommen – wie eng doch die Kreise sind, in denen ich mich seit jeher bewege –, die bald gezüchtet und gebastelt werden, um nach einem relativ kurzen Intervall rasch und effektiv verschrottet zu werden, wenn sie das Plansoll der Profitraten nicht mehr erfüllen. Allerdings hört sich das nicht sehr futuristisch an, es war doch schon immer so. Auch die Zukunft wird nur das tun, was die Vergangenheit machte; nur schneller, rücksichtsloser. LaMettrie schrieb seinerzeit etwas über den Menschen als Maschine, aber von einem Gott (um auch auf ihn noch einmal zu rekurrieren) in ihr wollte er nichts wissen. Nur die Theaterleute, lange vor ihm, ließen einen aus einer heraus springen, wenn sie mit ihrem Griechisch am Ende waren, um das Ende zu retten. Aber wer weiß. Womöglich zeigt sich am Ende doch einer, den Menschen und den Maschinen? Eh bien. Vielleicht wird es einen extra für die Maschinen geben, für Robots, Compus, Bots, Cyborgs (mit organischen Teilen in den Eingeweiden), für die, denen ein kurzes Leben geborgt wird, wie den Replikanten in Philip K. Dicks „Träumen Roboter von elektrischen Schafen?“ und Ridley Scotts – sagen wir assoziative – Verfilmung dieses Romans, „Blade Runner“? Oder sie erschaffen sich auch einen, um den sie herumstampfen, -schwingen, -sirren, -singen werden, zu den Elektrobeats, die aus den monumentalen Jukes-Boxes seiner Heiligen Hallen dröhnen? Wie werden sie ihn in ihrer neuen Weltordnung nennen? Baal, Bözzer On-kel, Balzebub, JahTschaTscha, TexasBush&HisInstruments?
Ein letztes Mal zum „Seelenfortschritt“. (Übrigens heißt ein Biberacher Gebäck „Seele“. Es wird aus Dinkel- und manchmal Dünkelmehl gebacken und als kurze Stange, einem handlichen Prügel nicht unähnlich, mit groben Salzkörnern darauf, zu einem gar nicht gepfefferten Preis in den Läden verkauft. In anderen Städten, auf allen Kontinenten, werden sekündlich viele Seelen verkauft, aber Biberach ist meines Wissens die einzige, in der das so symbolisch und mit so schmackhaften Folgen geschieht.) Das ganze Drumherum habe ich nur der täglichen Musillektüre zu verdanken, denn mir ist es gestern so vorgekommen, als könnte der Begriff auch bei ihm stehen. Steht er aber nicht. (Hoffentlich steht er tatsächlich nicht dort, und ich habe ihn gestern nicht übernommen, ohne daß mir das bewußt gewesen wäre. Auf erweiterte Weise bewußt sein müßte man können.) Nicht in diesem Buch, in dem ich inzwischen die Seite 545 erreicht habe, im Kapitel 112 bin. Ich bin jeden Tag verwundert darüber, daß ich es noch immer lese. In meiner Zeit als Verkäufer in der „Dornschen Buchhandlung“ in Biberach, im Herbst und Winter 1971, kaufte ich mir diese Ausgabe. Immer wieder, im Abstand von Jahren, versuchte ich, in der Lektüre voran zu kommen, stets brach ich sie ab; nun hoffe ich, das Buch noch ganz kennen lernen zu können. Das bestimmte Wort, das ich nicht wiederhole – könnte es als ein Zeichen dafür, daß ich in die Welt dieses Romans, dieser fragmentarisch gebliebenen Welt, aufgenommen worden bin, gelten? Ich erinnere mich..., wie ich dieses Buch zum ersten Mal aufschlug und mit den Fingerkuppen über seine Dünndruckseiten strich... –
Nun zu etwas völlig anderem. Heute vor dreißig Jahren, am 5. April 1972, rückte ich ins Jägerbataillon 102 in Bayreuth ein. Damit geht’s morgen weiter.
- Sehr sonniger Apriltag, aber ein kalter. Es ist noch etwas ungewohnt, daß die Dämmerung bis fast zwanzig Uhr dauert; wegen der Sommerzeit.
5.4.2002
Ich tendiere allerdings heute zu einer Form des Umgangs mit dem Wort „Seelenfortschritt“, wie sie Volker Braun mit dem zweiten Teil dieses eventuell Substantielles beinhaltenden Substantivs exerziert: „Fortschrott!“ (Ich setze einmal voraus, daß die Braunschen Ausführungen über die DDR, „Deutsche Demokratische Republik“, wie inzwischen vielleicht doch erklärend eingeschoben werden sollte, die Nach-DDR und den vom Sozialismus befreiten freien Westen bekannt sind. Das ist aber gar nicht unbedingt erforderlich, weil die Ironie auch den Rest des Bedachten erahnen läßt, und Zeitungen mit Artikeln über die Ursachen der Implosion der zweiten deutschen Republik las ja eigentlich jeder. In manchen stand sogar etwas Zutreffendes drin.) „Fortschrott! Fortschrott!“ Es wäre tatsächlich angebracht, wenn ich nach meinem Ausflug in nebulöse Sphären einige Zeilen weiter oben mit dem Wort „Seelenfortschritt“ ähnlich verfahren würde, etwas Derridadasche Dekonstruktion üben würde. „Seelen! Fort! Schrott!“ Was hielten Sie davon? Ganz konnte ich mich der alten Aversion gegen alles „Seelische“ offenkundig nicht entledigen. Könnte man meinen. Ich meine jedoch, den kritischen Unterton doch zu hören: Denn wie viele Seelen werden ununterbrochen verschrottet, verschrotet ... Schon bin ich wieder bei den künftigen Menschenmaschinen und Maschinenmenschen angekommen – wie eng doch die Kreise sind, in denen ich mich seit jeher bewege –, die bald gezüchtet und gebastelt werden, um nach einem relativ kurzen Intervall rasch und effektiv verschrottet zu werden, wenn sie das Plansoll der Profitraten nicht mehr erfüllen. Allerdings hört sich das nicht sehr futuristisch an, es war doch schon immer so. Auch die Zukunft wird nur das tun, was die Vergangenheit machte; nur schneller, rücksichtsloser. LaMettrie schrieb seinerzeit etwas über den Menschen als Maschine, aber von einem Gott (um auch auf ihn noch einmal zu rekurrieren) in ihr wollte er nichts wissen. Nur die Theaterleute, lange vor ihm, ließen einen aus einer heraus springen, wenn sie mit ihrem Griechisch am Ende waren, um das Ende zu retten. Aber wer weiß. Womöglich zeigt sich am Ende doch einer, den Menschen und den Maschinen? Eh bien. Vielleicht wird es einen extra für die Maschinen geben, für Robots, Compus, Bots, Cyborgs (mit organischen Teilen in den Eingeweiden), für die, denen ein kurzes Leben geborgt wird, wie den Replikanten in Philip K. Dicks „Träumen Roboter von elektrischen Schafen?“ und Ridley Scotts – sagen wir assoziative – Verfilmung dieses Romans, „Blade Runner“? Oder sie erschaffen sich auch einen, um den sie herumstampfen, -schwingen, -sirren, -singen werden, zu den Elektrobeats, die aus den monumentalen Jukes-Boxes seiner Heiligen Hallen dröhnen? Wie werden sie ihn in ihrer neuen Weltordnung nennen? Baal, Bözzer On-kel, Balzebub, JahTschaTscha, TexasBush&HisInstruments?
Ein letztes Mal zum „Seelenfortschritt“. (Übrigens heißt ein Biberacher Gebäck „Seele“. Es wird aus Dinkel- und manchmal Dünkelmehl gebacken und als kurze Stange, einem handlichen Prügel nicht unähnlich, mit groben Salzkörnern darauf, zu einem gar nicht gepfefferten Preis in den Läden verkauft. In anderen Städten, auf allen Kontinenten, werden sekündlich viele Seelen verkauft, aber Biberach ist meines Wissens die einzige, in der das so symbolisch und mit so schmackhaften Folgen geschieht.) Das ganze Drumherum habe ich nur der täglichen Musillektüre zu verdanken, denn mir ist es gestern so vorgekommen, als könnte der Begriff auch bei ihm stehen. Steht er aber nicht. (Hoffentlich steht er tatsächlich nicht dort, und ich habe ihn gestern nicht übernommen, ohne daß mir das bewußt gewesen wäre. Auf erweiterte Weise bewußt sein müßte man können.) Nicht in diesem Buch, in dem ich inzwischen die Seite 545 erreicht habe, im Kapitel 112 bin. Ich bin jeden Tag verwundert darüber, daß ich es noch immer lese. In meiner Zeit als Verkäufer in der „Dornschen Buchhandlung“ in Biberach, im Herbst und Winter 1971, kaufte ich mir diese Ausgabe. Immer wieder, im Abstand von Jahren, versuchte ich, in der Lektüre voran zu kommen, stets brach ich sie ab; nun hoffe ich, das Buch noch ganz kennen lernen zu können. Das bestimmte Wort, das ich nicht wiederhole – könnte es als ein Zeichen dafür, daß ich in die Welt dieses Romans, dieser fragmentarisch gebliebenen Welt, aufgenommen worden bin, gelten? Ich erinnere mich..., wie ich dieses Buch zum ersten Mal aufschlug und mit den Fingerkuppen über seine Dünndruckseiten strich... –
Nun zu etwas völlig anderem. Heute vor dreißig Jahren, am 5. April 1972, rückte ich ins Jägerbataillon 102 in Bayreuth ein. Damit geht’s morgen weiter.
- Sehr sonniger Apriltag, aber ein kalter. Es ist noch etwas ungewohnt, daß die Dämmerung bis fast zwanzig Uhr dauert; wegen der Sommerzeit.
5.4.2002
05.04.