1.4.2002
Das Moralisieren bringt ja nichts. Drum weiter mit Film, SF, WG; und rein damit in den PC. -
1977 war ein Jahr, in dem ich fast nie ins Kino ging. Das hatte mit meinem Geldmangel zu tun, aber nicht nur. Das bißchen Geld, das ich irgendwie hatte, brauchte ich für Wein und Whisky für den häuslichen Konsum. Sogar für die Kneipenbesuche reichte es wundersamerweise, sogar zweimal oder dreimal pro Woche. Ich wohnte in der Karpfengasse, ging damals vor allem ins „Alte Haus“ an der Kolpingstraße, die „Strauß“-Besuche wurden schon weniger, waren aber noch alte Gewohnheit. Meine Mutter gab mir ab und zu etwas Geld; und ich hatte, im Frühjahr 1977, damit angefangen, meine Miete für das größte Zimmer in der „Karga“ nicht mehr regelmäßig zu bezahlen – an mich, denn Anfang Januar war ich als Nachfolger von Herbert Kohout, der um Weihnachten 1976 zurück nach Wien gezogen war, als Hauptmieter in den Mietvertrag für das ganze Haus eingestiegen. Von nun an ging’s bergab. Hatte nicht Rolf C., von allen bis heute nur „Cäsu“ gerufen, bei der Bank, von der ich einmal einen Kredit über eine nicht allzu hohe Summe eingeräumt haben wollte, für diesen Kredit in dieser Zeit gebürgt? Cäsu und sein Kompagnon Gerd N. betrieben im Hochparterre der Karpfengasse 24 ein kleines Musikaliengeschäft, das dort hinter einem fast quadratischen Schaufenster, neben dem eine dreistufige Treppe in den engen Laden hineinführte, schon existiert hatte, als ich ins Haus eingezogen war. (N. ist tot, der Laden befindet sich seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Engelgasse neben dem Marktplatz; größer, schöner.) Ich weiß noch, wie ich eines Tages von oben, von meinem Zimmer kommend, das Lädelchen – in dem man sich auch sonst öfters aufhielt, wegen des Jazzclubs, den wir (wer wir war, wird man noch lesen) im Frühjahr `76 gegründet hatten – betrat und Cäsu direkt fragte, ob er sich’s vorstellen könne, für meinen Kredit zu bürgen, und er nur nickte. Ich war doch überrascht. Ich firmierte als Schriftsteller – der fast nie etwas schrieb, sondern seine Tage in der Stadtbücherei und in den Kneipen vergeudete und auch gar nicht in der Lage war, etwas Brauchbares in die IBM zu tippen. Auch der Bank gegenüber. Ohne Cäsus Bürgschaft hätte sie mir keinen Heller gegeben. Ich beabsichtigte aber nun ernsthaft, mit dem Schreiben von Science Fiction-Schundromanen das Geld zur Tilgung dieses Kredits zusammenzuschmieren, und Cäsu schien das wohl auch für eine realistische Idee zu halten, denn einige Wochen zuvor hatte ich Post erhalten, die er selber mir durch das bei frühsommerlich schönem Wetter geöffnete zweite Fenster meines Zimmers, durch das, vor dem nicht der Schreibtisch stand, und zwar so, daß ich mit dem Rücken zur Wand saß und die Tür im Auge behalten konnte, geschleudert hatte; ein Päckchen, aus dem ich die Belegexemplare meines SF-Heftromans „Der Mann aus dem Transmitter“, erschienen bei Kelter, Hamburg, gezogen hatte. Diese Sendung war C. gegenüber also meine Legitimation, die zeigte, daß ich gewillt war, mit diesen Dingen fortzufahren, gewesen. Ich bekam den Kredit. Ich setzte meinen unruhigen Arsch hinter die geliebte rote IBM, Weinglas und Zigaretten in Reichweite, und begann einen Schunder herunterzuhacken. Die näheren Umstände bitte ich dem Text zu entnehmen, den ich 1991 für eine Veröffentlichung der Stadt Biberach zu den 10. Baden-Württembergischen Literaturtagen im Herbst 1992 in Biberach schrieb. Voilà.
„Karpfengasse 24, 1977
Wummm, Wummm, wuuaah“ K.s Bett vibrierte, als er im späteren Vormittag aufschreckte! Nicht schon wieder!! Unter ihm, im Laden, spielte Cäsu Baß. Sommerlicht spähte in den langen Raum herein, K. lag auf seiner „Rockbühne“, wie er das alte breite Bett bezeichnet hatte, und lauschte den Baßrythmen. Wummm ...! „Der spielt wieder“, sagte er zum Kater Panama, der, auch wach, aber noch träge, lang ausgestreckt auf der linken Seite des Bettes ruhte. Der Verstärker knallte den Sound herauf. Eine E-Gitarre setzte ein, Cäsus Baß wurde leiser. „Verkaufsprobe, Dicker“, sagte K. zum Kater, der nun gähnend den Rücken durchbog und vom Bett hüpfte. K., 25 Jahre alt, blieb liegen. Das Licht stach ihm in die Augen, er wälzte sich zur Wandseite. Wummm, wuuaah ...! Erbost sprang K. auf und fütterte den Kater, öffnete eines der Fenster zur Gasse hin. Der Blues aus Cäsus Laden harmonisierte sich – „wird auch Zeit!“, dachte K. – und wurde eine ganz hübsche Morgenmelodie. Aber! Aus dem Stockwerk unter dem Dach blies Markus aus seiner Anlage den reinen Bebop in die Sommerluft! Von Tönen ausgefüllt war nun – unten fuhren Autos – die westliche Karpfengasse. K., noch nackt, sah aus dem Fenster. Markus legte was anderes auf. „A love supreme, a love supreme ...“ Coltranes Musik schallte zwischen den Häuserwänden. K. stampfte und tanzte, der Kater rannte herum. Cäsu unten spielte gegen John C. oben an. Ins Bad. Danach leichte Kleidung. K. ging hinunter und in den Laden hinein und sagte: „Was soll der Scheiß? Bei mir zittern die Bettstangen!“ Cäsu grinste spöttisch. „Aufgewacht?“ Er zupfte den Baß. Der Gitarrist war offenbar weg. Markus‘ Anlage lief volle Power, die Gasse dröhnte. „Der hat sie heut auch nicht alle!“, sagte K., Cäsu zuckte mit den Schultern. K. kehrte zurück in seinen Raum und schaltete die IBM ein. Der Kater wollte Ausgang. „Wiedersehn macht Freude“, sagte K., Panama wetzte die Treppe hinunter. Vom Fenster aus beobachtete K., wie er das winzige Kellerfenster verließ, verharrte, dann Richtung Schulstraße/Ratzengraben sich trollte. Seufzend hockte K. sich hinter die IBM. Oben trommelte jetzt Max Roach. Das Junilicht spielte mit den Flecken auf dem verschlissenen Teppichboden. Die IBM surrte. Tickticktick. Tick. Ticktick.
Manfred kam herein und sagte zornig: „Wenn der nicht bald aufhört, bezieht er Prügel!“ K. reckte sich auf dem Schreibstuhl. „Der übt doch nur“, antwortete er und griff nach der Zigarette. Die Merzsche Musikanlage schwieg jetzt, aber aus dem Kellergewölbe, wo der Schlagzeuger seine Drums aufgebaut hatte, drangen, wie aus dumpfer Gruft, immer gleiche Schlagfolgen heraus. „Ich kann das nicht mehr hören!“, grollte Manfred. K. tippte weiter. Das Hi-hat klirrte; Markus drosch die Trommeln. So ging das schon seit zwei Wochen.
Siesta war beendet, Autos fuhren unten wieder vorbei. „Das gibt’s doch nicht!“, sagte Manfred böse. K. tippte weiter. Manfred, der oben neben Markus wohnte, mit Agathe und Paule – Collie und Katze –, mochte Beethoven und die Stones und haßte Jazz. „Hör mal“, sagte K., „ich muß noch zehn Seiten runterreißen, okay?“ Manfred zog ab. K. wußte, was nun kommen würde, ging zum Fenster – das zweite ließ er immer geschlossen – und wartete. Na los! Manfreds Zimmer lag über seinem. Jetzt! Aus Manfreds sehr kleinem Gassenfenster, das einer Luke glich, wie K. einmal ironisch angemerkt hatte, denn Manfred war gelernter Binnenschiffer, schwoll mächtig die „Neunte“ von Ludwig van. „Lauter Spinner hier!“, sagte K und nahm Weißwein zu sich. Tickticktick. Usw. Der Science Fiction-Roman hieß „Die Kirche der Reinen Kulte“, und K. kicherte manchmal, während er die Seiten füllte. Irgendwann nachmittags registrierte er, daß Markus und Manfred die Ohren voll hatten. Stille. Auch Cäsu schien nur zu verkaufen. Die IBM summte ungeduldig. „Nachher nochmal“, sagte K. zu ihr, schaltete sie ab, klappte die Sonnenbrille übers Gesicht, verschloß den Raum, schlug die Haustür zu, ging zur Stadtbücherei. War ja nur um die Ecke. Ein heißer Nachmittag. Noch zwei andere, die nicht zum Baden wollten, die nicht baden gehen wollten, saßen in den Stühlen zwischen den Regalen. K. beschloß, nach kurzem Blick über die Szenerie, die Literaturzeitschriften einzusehen, im ersten Stock. Sein Aktenstudium war dies. Er mochte diese ruhigen Frühsommernachmittage im Lesesaal. Doch schließlich trieb es ihn hinaus auf die Straßen, wo er den Menschen zusehen konnte. „Du bist doch nur ein Statist, du wartest doch bloß!“, hatte Markus kürzlich ihn angeschrieen. K. hatte genickt. Während einer gewissen Zeit hatte auch er mitgemacht,aber das Warten schien ihm nun die bessere Ausprägung des Möglichkeitsinns zu sein.
Die abendlichen Giebelschatten zeichneten ihre Umrisse auf Straßen und Gassen und Plätze, als K., vom Marktplatz kommend, wo er in einem sog. Supermarkt Tomaten, Rinderleber, 1 Gurke, Reis und 2 Flaschen Rotwein gekauft hatte, die „Karl Marx-Allee“ – diesen sehr sehr schmalen Durchgang zwischen zwei Wänden – benützend, wieder vor der Haustür stand. Zwei Moto Guzzis und eine 750er-Honda aufgebockt neben der Hauswand. „So“, dachte K., stieg die Treppe hinauf und sah auf dem Blechbalkon Leute. In seinem Raum stellte er die Tasche ab und ging zurück zum Balkon, der nur eine kleine Fläche einnahm, von Häuserwänden eingekeilt war und sozusagen umzäunt war von einem halbhohen Gitter. G., dessen Zimmertür weit offen stand, hatte, nach längerer Zeit von weiten Reisen einmal wieder zurück im Haus, Gäste. Motorradgepäck auf dem Flur. K. trat auf den Balkon. „Wieder da“, sagte er dort. Sie nahmen ihn, wie er nicht anders erwartet hatte, kaum wahr. Auch das paßte ihm. Im Zimmer knipste er einige Lampen an und schaltete das Radio ein. Er sorgte sich um den Kater, der vor einigen Wochen erst nach elf Tagen zurückgekommen war; humpelnd, blutend. K. trank den Weißwein leer, aß eine Tomate. Er dachte an jenen, den er sehr gern hatte und der ihn vielleicht besuchen würde. Sah die Seiten durch, die er getippt hatte. Es war ein Geldjob.
Im Haus wurde es lauter; Leute kamen, gingen, die Tür schlug. Ein Redeschwall, lautstarkes Gefasel, aus den offenen Fenstern der „Bierhalle“ gegenüber. K. saß wieder hinter der Schreibmaschine und spannte, Zigarette zwischen den Lippen, ein neues Blatt ein. Fünfzehn Seiten pro Tag waren sein Limit; sechs, sieben Stunden. Okay.
Charles klopfte; K. wußte, daß Charles es war. „Ja!“, rief er, sein Zimmernachbar trat ein. „Hat er dir gefallen?“ fragte K.. Im Urania-Kino wurde die überhaupt erste Retrospektive von Werner Herzog-Filmen gezeigt. Charles lud K. zum Tee ein. Im anderen Zimmer dominierte der Reißbrett-Tisch. „Leg Bob Marley auf“, sagte K., während er über die Zeichnung sah. Charles zelebrierte den Tee klassisch. Der Earl Grey floß in die Tassen. Sie sprachen über Herzogs Film „Aguirre, der Zorn Gottes“. K. holte dann den Scotch aus seinem Schreibtisch. Draußen auf dem Gang ein Kommen und Gehen.
Später ging K. in den „Strauß“, wo die Szene sich traf, wenn der Tag älter wurde. Die Juke-Box heulte; man kam, trank, ging, Palaver, Palaver. K. wechselte hinüber zum „Rebstock“. „Du kriagscht gar nix meh!“ sagte ruppig Tina Bauer, „wa witt?“ „Käsbrot ond Heilbronner“. „Du!“ sagte Frau Bauer und verschwand mit vorgetäuschter drohender Miene hinter dem Tresen. K. redete mit den anderen am langen Tisch. Der Heilbronner wurde ihm hingestellt, das Käsbrot folgte. K. aß es hungrig. Seit Jahren saß er, gerne am frühen Abend, in diesem Raum mit der Tabakpatina an den Wänden – in Büchern und Zeitungen blätternd, lesend, die Dämmerung beobachtend, Wein schlotzend. Ein schnelles Gewitter hatte die Nachtluft gekühlt, über den stillen Marktplatz trieb ein Rest Regen, als er zurück in die „Karga“ eilte. Leise rief er vor dem Haus nach dem Kater, schlich einige Meter Richtung „Karl Marx-Allee“, neben deren Eingangsecke kleine bepißte Sträucher wucherten, kehrte um. Im Haus alles ruhig. Aus der Küche wehte der Geruch von Spaghettisauce. „Die Oregano-Fraktion...“, dachte K. und schloß die Küchentür. Er ging auf den Balkon, rauchte eine Zigarette an – drei, vier halbabgebrannte Kerzen in Untertassen auf dem Tischchen – und lockte den Kater.
„Panama, Panama ...“ Ihn fröstelte. In seinem Zimmer hatte er die Lampen eingeschaltet gelassen. Eine halbe Seite tippte er noch, dann nahm er eine der Rotweinflaschen mit hinauf in den zweiten Stock und klopfte bei Manfred. Der lebte zur Zeit wieder nachts. „Dachte ich mir“, brummte Manfred, als er öffnete. Die Collie-Hündin kroch um K.s Waden und versuchte, sie zu beißen. „Gathe, hör auf!“, sagte K., „wie wär’s mit Beethoven?“ Das Tier hatte früher schlechte Erfahrungen gemacht. Offensichtlich malte Manfred an einem neuen Bild. Er legte K. den Korkenzieher hin und setzte für sich frisches Teewasser auf. Er bevorzugte die friesische Mischung. Sie kannten einander schon lange.
„Man ertastet noch nichts“, stellte K. fest. Paule, die schwarze Katze, schmuste auf seinen Oberschenkeln. „Dauert halt“, entgegnete Manfred, der den Tee abgoß. Panama und Paule, das alte Spiel... Ludwig van dann. – Fast dämmerte der Junimorgen schon, als K. hinunter stieg. Zwölf oder zwanzig Schlafende im Haus. „In jeder Kammer wirklich andere Lebenskonzepte?“, überlegte K. sarkastisch. Er öffnete im Zimmer das vorhangfreie Fenster weit, um die Kühle hereinzulassen, und plötzlich an der Tür das vertraute Kratzen! K. riß die Tür auf, der Kater schoß herein und stürzte sich über die Futterschüssel. Endlich durfte K. aufs Bett fallen.“
-Von morgens bis abends ruhiges Sonnen- und Frühlingswetter. Milde Luft. Kaum Wind.
1.April 2002
1977 war ein Jahr, in dem ich fast nie ins Kino ging. Das hatte mit meinem Geldmangel zu tun, aber nicht nur. Das bißchen Geld, das ich irgendwie hatte, brauchte ich für Wein und Whisky für den häuslichen Konsum. Sogar für die Kneipenbesuche reichte es wundersamerweise, sogar zweimal oder dreimal pro Woche. Ich wohnte in der Karpfengasse, ging damals vor allem ins „Alte Haus“ an der Kolpingstraße, die „Strauß“-Besuche wurden schon weniger, waren aber noch alte Gewohnheit. Meine Mutter gab mir ab und zu etwas Geld; und ich hatte, im Frühjahr 1977, damit angefangen, meine Miete für das größte Zimmer in der „Karga“ nicht mehr regelmäßig zu bezahlen – an mich, denn Anfang Januar war ich als Nachfolger von Herbert Kohout, der um Weihnachten 1976 zurück nach Wien gezogen war, als Hauptmieter in den Mietvertrag für das ganze Haus eingestiegen. Von nun an ging’s bergab. Hatte nicht Rolf C., von allen bis heute nur „Cäsu“ gerufen, bei der Bank, von der ich einmal einen Kredit über eine nicht allzu hohe Summe eingeräumt haben wollte, für diesen Kredit in dieser Zeit gebürgt? Cäsu und sein Kompagnon Gerd N. betrieben im Hochparterre der Karpfengasse 24 ein kleines Musikaliengeschäft, das dort hinter einem fast quadratischen Schaufenster, neben dem eine dreistufige Treppe in den engen Laden hineinführte, schon existiert hatte, als ich ins Haus eingezogen war. (N. ist tot, der Laden befindet sich seit mehr als zwei Jahrzehnten an der Engelgasse neben dem Marktplatz; größer, schöner.) Ich weiß noch, wie ich eines Tages von oben, von meinem Zimmer kommend, das Lädelchen – in dem man sich auch sonst öfters aufhielt, wegen des Jazzclubs, den wir (wer wir war, wird man noch lesen) im Frühjahr `76 gegründet hatten – betrat und Cäsu direkt fragte, ob er sich’s vorstellen könne, für meinen Kredit zu bürgen, und er nur nickte. Ich war doch überrascht. Ich firmierte als Schriftsteller – der fast nie etwas schrieb, sondern seine Tage in der Stadtbücherei und in den Kneipen vergeudete und auch gar nicht in der Lage war, etwas Brauchbares in die IBM zu tippen. Auch der Bank gegenüber. Ohne Cäsus Bürgschaft hätte sie mir keinen Heller gegeben. Ich beabsichtigte aber nun ernsthaft, mit dem Schreiben von Science Fiction-Schundromanen das Geld zur Tilgung dieses Kredits zusammenzuschmieren, und Cäsu schien das wohl auch für eine realistische Idee zu halten, denn einige Wochen zuvor hatte ich Post erhalten, die er selber mir durch das bei frühsommerlich schönem Wetter geöffnete zweite Fenster meines Zimmers, durch das, vor dem nicht der Schreibtisch stand, und zwar so, daß ich mit dem Rücken zur Wand saß und die Tür im Auge behalten konnte, geschleudert hatte; ein Päckchen, aus dem ich die Belegexemplare meines SF-Heftromans „Der Mann aus dem Transmitter“, erschienen bei Kelter, Hamburg, gezogen hatte. Diese Sendung war C. gegenüber also meine Legitimation, die zeigte, daß ich gewillt war, mit diesen Dingen fortzufahren, gewesen. Ich bekam den Kredit. Ich setzte meinen unruhigen Arsch hinter die geliebte rote IBM, Weinglas und Zigaretten in Reichweite, und begann einen Schunder herunterzuhacken. Die näheren Umstände bitte ich dem Text zu entnehmen, den ich 1991 für eine Veröffentlichung der Stadt Biberach zu den 10. Baden-Württembergischen Literaturtagen im Herbst 1992 in Biberach schrieb. Voilà.
„Karpfengasse 24, 1977
Wummm, Wummm, wuuaah“ K.s Bett vibrierte, als er im späteren Vormittag aufschreckte! Nicht schon wieder!! Unter ihm, im Laden, spielte Cäsu Baß. Sommerlicht spähte in den langen Raum herein, K. lag auf seiner „Rockbühne“, wie er das alte breite Bett bezeichnet hatte, und lauschte den Baßrythmen. Wummm ...! „Der spielt wieder“, sagte er zum Kater Panama, der, auch wach, aber noch träge, lang ausgestreckt auf der linken Seite des Bettes ruhte. Der Verstärker knallte den Sound herauf. Eine E-Gitarre setzte ein, Cäsus Baß wurde leiser. „Verkaufsprobe, Dicker“, sagte K. zum Kater, der nun gähnend den Rücken durchbog und vom Bett hüpfte. K., 25 Jahre alt, blieb liegen. Das Licht stach ihm in die Augen, er wälzte sich zur Wandseite. Wummm, wuuaah ...! Erbost sprang K. auf und fütterte den Kater, öffnete eines der Fenster zur Gasse hin. Der Blues aus Cäsus Laden harmonisierte sich – „wird auch Zeit!“, dachte K. – und wurde eine ganz hübsche Morgenmelodie. Aber! Aus dem Stockwerk unter dem Dach blies Markus aus seiner Anlage den reinen Bebop in die Sommerluft! Von Tönen ausgefüllt war nun – unten fuhren Autos – die westliche Karpfengasse. K., noch nackt, sah aus dem Fenster. Markus legte was anderes auf. „A love supreme, a love supreme ...“ Coltranes Musik schallte zwischen den Häuserwänden. K. stampfte und tanzte, der Kater rannte herum. Cäsu unten spielte gegen John C. oben an. Ins Bad. Danach leichte Kleidung. K. ging hinunter und in den Laden hinein und sagte: „Was soll der Scheiß? Bei mir zittern die Bettstangen!“ Cäsu grinste spöttisch. „Aufgewacht?“ Er zupfte den Baß. Der Gitarrist war offenbar weg. Markus‘ Anlage lief volle Power, die Gasse dröhnte. „Der hat sie heut auch nicht alle!“, sagte K., Cäsu zuckte mit den Schultern. K. kehrte zurück in seinen Raum und schaltete die IBM ein. Der Kater wollte Ausgang. „Wiedersehn macht Freude“, sagte K., Panama wetzte die Treppe hinunter. Vom Fenster aus beobachtete K., wie er das winzige Kellerfenster verließ, verharrte, dann Richtung Schulstraße/Ratzengraben sich trollte. Seufzend hockte K. sich hinter die IBM. Oben trommelte jetzt Max Roach. Das Junilicht spielte mit den Flecken auf dem verschlissenen Teppichboden. Die IBM surrte. Tickticktick. Tick. Ticktick.
Manfred kam herein und sagte zornig: „Wenn der nicht bald aufhört, bezieht er Prügel!“ K. reckte sich auf dem Schreibstuhl. „Der übt doch nur“, antwortete er und griff nach der Zigarette. Die Merzsche Musikanlage schwieg jetzt, aber aus dem Kellergewölbe, wo der Schlagzeuger seine Drums aufgebaut hatte, drangen, wie aus dumpfer Gruft, immer gleiche Schlagfolgen heraus. „Ich kann das nicht mehr hören!“, grollte Manfred. K. tippte weiter. Das Hi-hat klirrte; Markus drosch die Trommeln. So ging das schon seit zwei Wochen.
Siesta war beendet, Autos fuhren unten wieder vorbei. „Das gibt’s doch nicht!“, sagte Manfred böse. K. tippte weiter. Manfred, der oben neben Markus wohnte, mit Agathe und Paule – Collie und Katze –, mochte Beethoven und die Stones und haßte Jazz. „Hör mal“, sagte K., „ich muß noch zehn Seiten runterreißen, okay?“ Manfred zog ab. K. wußte, was nun kommen würde, ging zum Fenster – das zweite ließ er immer geschlossen – und wartete. Na los! Manfreds Zimmer lag über seinem. Jetzt! Aus Manfreds sehr kleinem Gassenfenster, das einer Luke glich, wie K. einmal ironisch angemerkt hatte, denn Manfred war gelernter Binnenschiffer, schwoll mächtig die „Neunte“ von Ludwig van. „Lauter Spinner hier!“, sagte K und nahm Weißwein zu sich. Tickticktick. Usw. Der Science Fiction-Roman hieß „Die Kirche der Reinen Kulte“, und K. kicherte manchmal, während er die Seiten füllte. Irgendwann nachmittags registrierte er, daß Markus und Manfred die Ohren voll hatten. Stille. Auch Cäsu schien nur zu verkaufen. Die IBM summte ungeduldig. „Nachher nochmal“, sagte K. zu ihr, schaltete sie ab, klappte die Sonnenbrille übers Gesicht, verschloß den Raum, schlug die Haustür zu, ging zur Stadtbücherei. War ja nur um die Ecke. Ein heißer Nachmittag. Noch zwei andere, die nicht zum Baden wollten, die nicht baden gehen wollten, saßen in den Stühlen zwischen den Regalen. K. beschloß, nach kurzem Blick über die Szenerie, die Literaturzeitschriften einzusehen, im ersten Stock. Sein Aktenstudium war dies. Er mochte diese ruhigen Frühsommernachmittage im Lesesaal. Doch schließlich trieb es ihn hinaus auf die Straßen, wo er den Menschen zusehen konnte. „Du bist doch nur ein Statist, du wartest doch bloß!“, hatte Markus kürzlich ihn angeschrieen. K. hatte genickt. Während einer gewissen Zeit hatte auch er mitgemacht,aber das Warten schien ihm nun die bessere Ausprägung des Möglichkeitsinns zu sein.
Die abendlichen Giebelschatten zeichneten ihre Umrisse auf Straßen und Gassen und Plätze, als K., vom Marktplatz kommend, wo er in einem sog. Supermarkt Tomaten, Rinderleber, 1 Gurke, Reis und 2 Flaschen Rotwein gekauft hatte, die „Karl Marx-Allee“ – diesen sehr sehr schmalen Durchgang zwischen zwei Wänden – benützend, wieder vor der Haustür stand. Zwei Moto Guzzis und eine 750er-Honda aufgebockt neben der Hauswand. „So“, dachte K., stieg die Treppe hinauf und sah auf dem Blechbalkon Leute. In seinem Raum stellte er die Tasche ab und ging zurück zum Balkon, der nur eine kleine Fläche einnahm, von Häuserwänden eingekeilt war und sozusagen umzäunt war von einem halbhohen Gitter. G., dessen Zimmertür weit offen stand, hatte, nach längerer Zeit von weiten Reisen einmal wieder zurück im Haus, Gäste. Motorradgepäck auf dem Flur. K. trat auf den Balkon. „Wieder da“, sagte er dort. Sie nahmen ihn, wie er nicht anders erwartet hatte, kaum wahr. Auch das paßte ihm. Im Zimmer knipste er einige Lampen an und schaltete das Radio ein. Er sorgte sich um den Kater, der vor einigen Wochen erst nach elf Tagen zurückgekommen war; humpelnd, blutend. K. trank den Weißwein leer, aß eine Tomate. Er dachte an jenen, den er sehr gern hatte und der ihn vielleicht besuchen würde. Sah die Seiten durch, die er getippt hatte. Es war ein Geldjob.
Im Haus wurde es lauter; Leute kamen, gingen, die Tür schlug. Ein Redeschwall, lautstarkes Gefasel, aus den offenen Fenstern der „Bierhalle“ gegenüber. K. saß wieder hinter der Schreibmaschine und spannte, Zigarette zwischen den Lippen, ein neues Blatt ein. Fünfzehn Seiten pro Tag waren sein Limit; sechs, sieben Stunden. Okay.
Charles klopfte; K. wußte, daß Charles es war. „Ja!“, rief er, sein Zimmernachbar trat ein. „Hat er dir gefallen?“ fragte K.. Im Urania-Kino wurde die überhaupt erste Retrospektive von Werner Herzog-Filmen gezeigt. Charles lud K. zum Tee ein. Im anderen Zimmer dominierte der Reißbrett-Tisch. „Leg Bob Marley auf“, sagte K., während er über die Zeichnung sah. Charles zelebrierte den Tee klassisch. Der Earl Grey floß in die Tassen. Sie sprachen über Herzogs Film „Aguirre, der Zorn Gottes“. K. holte dann den Scotch aus seinem Schreibtisch. Draußen auf dem Gang ein Kommen und Gehen.
Später ging K. in den „Strauß“, wo die Szene sich traf, wenn der Tag älter wurde. Die Juke-Box heulte; man kam, trank, ging, Palaver, Palaver. K. wechselte hinüber zum „Rebstock“. „Du kriagscht gar nix meh!“ sagte ruppig Tina Bauer, „wa witt?“ „Käsbrot ond Heilbronner“. „Du!“ sagte Frau Bauer und verschwand mit vorgetäuschter drohender Miene hinter dem Tresen. K. redete mit den anderen am langen Tisch. Der Heilbronner wurde ihm hingestellt, das Käsbrot folgte. K. aß es hungrig. Seit Jahren saß er, gerne am frühen Abend, in diesem Raum mit der Tabakpatina an den Wänden – in Büchern und Zeitungen blätternd, lesend, die Dämmerung beobachtend, Wein schlotzend. Ein schnelles Gewitter hatte die Nachtluft gekühlt, über den stillen Marktplatz trieb ein Rest Regen, als er zurück in die „Karga“ eilte. Leise rief er vor dem Haus nach dem Kater, schlich einige Meter Richtung „Karl Marx-Allee“, neben deren Eingangsecke kleine bepißte Sträucher wucherten, kehrte um. Im Haus alles ruhig. Aus der Küche wehte der Geruch von Spaghettisauce. „Die Oregano-Fraktion...“, dachte K. und schloß die Küchentür. Er ging auf den Balkon, rauchte eine Zigarette an – drei, vier halbabgebrannte Kerzen in Untertassen auf dem Tischchen – und lockte den Kater.
„Panama, Panama ...“ Ihn fröstelte. In seinem Zimmer hatte er die Lampen eingeschaltet gelassen. Eine halbe Seite tippte er noch, dann nahm er eine der Rotweinflaschen mit hinauf in den zweiten Stock und klopfte bei Manfred. Der lebte zur Zeit wieder nachts. „Dachte ich mir“, brummte Manfred, als er öffnete. Die Collie-Hündin kroch um K.s Waden und versuchte, sie zu beißen. „Gathe, hör auf!“, sagte K., „wie wär’s mit Beethoven?“ Das Tier hatte früher schlechte Erfahrungen gemacht. Offensichtlich malte Manfred an einem neuen Bild. Er legte K. den Korkenzieher hin und setzte für sich frisches Teewasser auf. Er bevorzugte die friesische Mischung. Sie kannten einander schon lange.
„Man ertastet noch nichts“, stellte K. fest. Paule, die schwarze Katze, schmuste auf seinen Oberschenkeln. „Dauert halt“, entgegnete Manfred, der den Tee abgoß. Panama und Paule, das alte Spiel... Ludwig van dann. – Fast dämmerte der Junimorgen schon, als K. hinunter stieg. Zwölf oder zwanzig Schlafende im Haus. „In jeder Kammer wirklich andere Lebenskonzepte?“, überlegte K. sarkastisch. Er öffnete im Zimmer das vorhangfreie Fenster weit, um die Kühle hereinzulassen, und plötzlich an der Tür das vertraute Kratzen! K. riß die Tür auf, der Kater schoß herein und stürzte sich über die Futterschüssel. Endlich durfte K. aufs Bett fallen.“
-Von morgens bis abends ruhiges Sonnen- und Frühlingswetter. Milde Luft. Kaum Wind.
1.April 2002
01.04.