22
Mrz

22.3.2002

Ich trete in das Wohnzimmer ein und gehe ein paar Schritte nach links, die drei Meter ausmachen, stelle Teller und Glas auf den zweiten großen Tisch, der dort an der Wand, die Wohn- und Schlafzimmer voneinander trennt; und bin zum Tisch an der Tür vorbeigegangen, die zwischen Wohnzimmertür und Tisch den Zugang zum Schlafzimmer ermöglicht und geschlossen ist; ich setze mich auf einen der beiden Stühle, deren Sitzflächen mit einem leicht gewölbten ockergelben Polster ausgefüllt sind. Im Zimmer dunkelt es jetzt allmählich, ich knipse die Lampe, die an der Wand angebracht ist und deren milchiger Glasschirm, der die Form eines Kelches hat, dessen großer Durchmesser unten ist, über einem Teil des Tisches hängt und hin- und herbewegt werden kann, an einer Haltevorrichtung aus hellem Holz, an; diese Ecke des Zimmers ist nun erleuchtet, aber noch ziehe ich die Vorhänge aus einem dünneren Stoff, in dem hauptsächlich Gelb dominiert, wobei die kleinen Muster im Stil der frühen sechziger Jahre in anderen Farben, aber nicht unpassend, sondern auch in Pastelltönen, eingefärbt sind, weder vor das Fenster, neben dem ich jetzt sitze und das nach Süden, zum Garten und zur Gartenstraße hin, den Blick freigibt, noch vor das in Richtung Westen, in dem nun, stärker als vor dem anderen, der Abenddämmer durch die Stores schimmert. Ich bin allein in der Wohnung. Vielleicht ist es Montag, oder Dienstag, und es dauert noch eine Stunde, bis meine Mutter vom Arbeiten kommt? Auf dem Tisch – auch über seine Platte liegt eine Tischdecke ausgebreitet – ist, als ich mich ihm genähert habe, schon das Science Fiction-Taschenbuch gelegen, das ich mir „aus der Stadt“ vorhin mitbrachte; also habe ich die Wohnzimmertür offen gelassen, als ich noch einmal aus der Wohnung gegangen bin, um, bevor ich’s mir gemütlich machen würde, den Abfall aus der Küche zum Kuttereimer, dessen Platz immer an der Nordseite des Gartens, dicht am Haus, ist, zu tragen, denn weil ich mich kenne, habe ich das vor der Lektüre tun müssen, sonst hätte ich es vergessen und das später erledigen müssen, wenn ich dazu keine Lust haben würde; ich will solche lästigen Tätigkeiten gerne hinter mir haben, um den vor mir liegenden Zeitraum von diesen Ablenkungen frei zu halten. Ich breche ein Stück von der Butterbrezel ab und beginne es genüßlich zu zerkauen, nehme einen Schluck von dem süßen Sprudel und schlage das Taschenbuch – heißt der Autor Isaac Aimov oder Brian Aldiss? – auf und beginne zu lesen. Hinter mir steht an der Südwand der Wohnzimmerschrank aus gemasertem dunklen Nußbaumholz; mit der in seiner Mitte eingelassenen Glasvitrine, in der das kostbare chinesische Tee-Porzellan steht, bis es beim nächsten Besuch des Hausbesitzers aus Sizilien wieder hervorgeholt wird. Vor dem Schrank, schon auch vor der Westwand, der Gummibaum, der wieder einmal Probleme macht und gelbe Blätter abwirft. In seiner unmittelbaren Nähe seitlich hinter ihm, hat ein Schränkchen mit Glastüren, aus dunklem Holz, seinen Platz und steht nicht die Musiktruhe in diesen Jahren noch daneben, halb unter dem Fenster, oder gar in voller Breite unter ihm? 1968 schon wird sie unter dem Südfenster den Platz haben, den sie bis zum Auszug aus der Wohnung auch behalten kann. „Unsere gemütliche Ecke“, wie meine Mutter in einem der Jahre zuvor auf die Rückseite eines Fotos schrieb, beinhaltete einen Couchtisch mit heller Platte und etwas nach außen stehenden dunklen Holzbeinen, an der Westwand standen der dunkelblaue kleine Sessel mit niedrigen Holzarmlehnen, daneben, zwischen diesem Sessel und der Chaiselongue, die im rechten Winkel mit der anderen Wand steht, mit dem erhöhten Kopfwulst, ganz in weinrot der Stoff des Möbels, die Stehlampe in Form einer großen, nach oben konisch zulaufenden und oben und unten offenen gelblichen Tüte aus einem Material, das kein Plastik war, aber ähnlich wirkte, auf der der Chaiselongue, die nur als Coach bezeichnet wurde, gegenüberliegenden Tischseite der graue Sessel; der zweite blaue, auf dem man mit dem Rücken zur Tür, zu den Türen, saß, dem ersten blauen gegenüber auf der türzugewandten Längsseite des Tischs. In der Wand zwischen Couch und Dauerbrandofen, diesem kleinbürgerlichen Imitat eines herrschaftlichen Kamins, der schräg gegen die Kaminecke gestellt ist, hinter einem schon etwas mitgenommenen kleinen Sessel, dem seine Herkunft aus der Nierentischzeit überdeutlich anzusehen ist (in den Farben hellrosa und hellgrau), befindet sich, von einem bodenlangen dunkelblauen Samt-vorhang, der so gut wie nie zur Seite gezogen oder geschlagen wird, auch eine Tür; zu jenem Zimmer, in dem ... In der „gemütlichen Ecke“ liegt der alte dünne graue Teppich; der `66 noch neue, gelbockerfarbene und schwarze, mit Oktagon-Medaillons als großen Mustern, mit anderen auch, die sich mäandernd über die Ecken ziehen, versehene, nimmt die Bodenfläche, aber nicht die ganze, zur Musiktruhe und zum Schrank hin ein. Nun ist es draußen dunkel. Ich komme für eine Minute von der Reise zurück, ziehe die Vorhänge zu, schalte auch das Licht der Tütenlampe an; das Zimmer ist nun von zwei sich diagonal gegenüberliegenden Lichtquellen beschummert; die Deckenlampe mit ihren sechs länglichen Birnen hängt wie eine weit auseinander gebogene umgedrehte Krone aus Falschgold unter der Decke und bleibt ausgeschaltet, so verschwinden die kleinen Muster auf der hellen Tapete, die die vier Wände verschönen sollen, jetzt ganz, ausgenommen auf jenen Stellen, die von den beiden leuchtenden Lampen behellt werden.
- Am Spätnachmittag des vornehmlich grautrüben Tages, durch den ein kalter Wind wehte, hellte sich der Westhimmel zu einem Hellblaugrau von pastellfarbener Leichtigkeit auf; aber zunächst erst zögernd, bis sich solche Flecken auch an anderen Stellen zeigten und dann größere Flächen einnahmen. Für kurze Zeit dazwischen sogar etwas von der Bläue.
22.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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