17.3.2002
Wenders trug noch seine langen Haare; ich sah ihn in diesem Kino, also nicht in diesem neuen, sondern in diesem Kinobetrieb, nicht zum ersten Mal und ging, mit meinem Bierbecher in der Hand, dessen Inhalt zu meiner Erbauung nichts gekostet hatte, durch den Raum, um ihn mir aus verschiedenen Perspektiven anzusehen. Im Sommer 1975 war W. im großen Saal des „Filmtheaters“ vorne an der Waldseer Straße vor vierzehn Zuschauern seines damals eben in den Kinos anlaufenden Films „Falsche Bewegung“ gestanden, mit ebensolcher Mähne und Hosenträgern über dem Hemd, sehr einsilbig, und da die Kinobesucher, die sich in dem 465- oder 467-Sitzplätzekino verloren, ihn mit Fragen zu seinem Film (Handke hatte das Drehbuch geschrieben) nicht eben überschüttet hatten, waren immer neue Pausen voller Stille in diesem „Gespräch“ entstanden. Wer schon einmal allein, oder mit nur sehr wenigen anderen, die alle stumm bleiben, in einem weiten hohen Kinosaal, in dem eben keine bewegten Bilder über die Bildwand laufen, gesessen ist, der weiß, wie eine solche Stille sich ausbreitet und den Raum wie leicht entrückt aus der Wirklichkeit empfinden läßt, aber auf eine andere Weise nun als in jener, die einem Kino, in dem man ja der Wirklichkeit für zwei oder mehr Stunden entrückt sein will, zusteht, ja die von ihm verlangt wird – in so einem Kinosaal, aber er muß groß sein, ohne Film ist es einem nach einer gewissen Anzahl von Minuten, als schwebe man, ruhig und still, in einem Raumschiff, oder bloß in einer geräumigen Kapsel, dessen Großbildschirm oder Fenster undurchsichtig geworden ist, in einer langsamen Bewegung durch ein All, in dem all die Welten, die die Filme aufbauten und die wieder versanken, all die Geschichten und Schicksale, die sich in diesen Welten zutrugen, von dieser Kapsel fortdrifteten, in die unendlichen Weiten einer geheimnisvollen Vergangenheit und Erinnerung. Dann hatte der Kinobesitzer zu Wenders gesagt: „Wim, sag was!“ Und, zögerlich, hatte der Regisseur wieder etwas vom Entstehen seines Films erzählt. Den ich zwei Wochen zuvor schon einmal, in Stuttgart, in einer Nachmittagsvorführung, gesehen hatte; in Biberach hatte ich an jenem Abend Bernd H., der damals in Tübingen studiert hatte und an manchen Wochenenden, wie ich, in seine Geburtsstadt gekommen war, dazu überredet, ins Kino mitzugehen; mit dem Film, dessen Geschichte Handke frei nach Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ geformt hatte, hatte er, obwohl Germanistikstudent, nichts anfangen können. In den siebziger und achtziger Jahren mochte ich die Wenders-Filme. Im September 1976, als „Im Lauf der Zeit“ im „Urania“-Kino gezeigt wurde, hatte ich, nach zweimaligem Ansehen, eine kleine Besprechung im örtlichen Blatt geschrieben und mußte mir, als ich wieder ins Kino gegangen war, vom Kinobesitzer sagen lassen (ich hätte es besser wissen müssen, nach all der Lektüre über Film), daß ich Fritz Lang mit John Ford verwechselt hätte; denn beide trugen Augenklappen. – Die Filmbesprechung (Schwäbische Zeitung Biberach, 4.9.1976)
Im Lauf der Zeit kommt die Lust auf Veränderung
Biberach. Wim Wenders‘ Film „Im Lauf der Zeit“, der am Donnerstag in Anwesenheit des Regisseurs Premiere in Biberach hatte, ist ein schöner und starker Film. Die beiden Männer, die sich treffen, kommen ohne Gesten aus; der eine fährt in einem alten Möbelwagen durch die Provinzstädte entlang der deutschen Grenze und repariert die Abspielgeräte trister Kinos; der andere hat sich von seiner Frau getrennt und kommt doch ohne sie nicht aus. Sie treffen einander, zufällig, erleben miteinander und sprechen, als sie sich’s zutrauen, über sich und gehen wieder ihren eigenen Weg: Aber gegenseitig gestärkt, mit Mut auf das, was ihnen etwas bringen kann.
Im Lauf der Zeit ist es möglich, Resignation und Selbstaufgabe zu überstehen und die Sehnsucht nach wirklichem Leben zu verwirklichen. Wenders‘ Film ist ein Film voll von großer Sehnsucht nach einem menschlichen Leben. So unmittelbar sinnlich, denn selbst das Gespielte erscheint ungestellt und spontan, so unverstellt und selbstverständlich, wie diese „Geschichte“ abläuft, macht sie Spaß auf eigene – und nicht zuletzt gesellschaftliche Veränderung.
Das artikuliert sich nicht in groß tönenden Sentenzen; alles ist verständlich und sehr realistisch. Und obwohl diese Geschichte drei Kinostunden währt, wird sie nie langweilig, im Gegenteil: Sie ist so ruhig und deswegen so interessant, daß man sie weiterhin miterleben möchte – der Film hat halt (wie' s im Titel Ausdruck findet) einen großen epischen Atem.
“Film ist die Kunst des Sehens“, sagt die Kinobesitzerin in Hof am Schluß der Geschichte, und hinter ihr hängt ein gerahmtes Foto von John Ford. Und: „Wenn keine Veränderung mehr möglich ist, hat alles andere keinen Sinn“, sagte der, der sich doch entscheidet, seinem unvermeidbaren Leben nicht davonzufahren; und er akzeptiert: „Es muß alles anders werden. So long.“
Wim Wenders diskutierte nach der Vorstellung über seine Filmarbeit; die Fragen, die er beantwortete, wären bei intensiver Aufmerksamkeit überflüssig gewesen. kd
- Sonniger Tag, in der Nähe der Dämmerung Schäfchenwolken.
17.3.2002
Im Lauf der Zeit kommt die Lust auf Veränderung
Biberach. Wim Wenders‘ Film „Im Lauf der Zeit“, der am Donnerstag in Anwesenheit des Regisseurs Premiere in Biberach hatte, ist ein schöner und starker Film. Die beiden Männer, die sich treffen, kommen ohne Gesten aus; der eine fährt in einem alten Möbelwagen durch die Provinzstädte entlang der deutschen Grenze und repariert die Abspielgeräte trister Kinos; der andere hat sich von seiner Frau getrennt und kommt doch ohne sie nicht aus. Sie treffen einander, zufällig, erleben miteinander und sprechen, als sie sich’s zutrauen, über sich und gehen wieder ihren eigenen Weg: Aber gegenseitig gestärkt, mit Mut auf das, was ihnen etwas bringen kann.
Im Lauf der Zeit ist es möglich, Resignation und Selbstaufgabe zu überstehen und die Sehnsucht nach wirklichem Leben zu verwirklichen. Wenders‘ Film ist ein Film voll von großer Sehnsucht nach einem menschlichen Leben. So unmittelbar sinnlich, denn selbst das Gespielte erscheint ungestellt und spontan, so unverstellt und selbstverständlich, wie diese „Geschichte“ abläuft, macht sie Spaß auf eigene – und nicht zuletzt gesellschaftliche Veränderung.
Das artikuliert sich nicht in groß tönenden Sentenzen; alles ist verständlich und sehr realistisch. Und obwohl diese Geschichte drei Kinostunden währt, wird sie nie langweilig, im Gegenteil: Sie ist so ruhig und deswegen so interessant, daß man sie weiterhin miterleben möchte – der Film hat halt (wie' s im Titel Ausdruck findet) einen großen epischen Atem.
“Film ist die Kunst des Sehens“, sagt die Kinobesitzerin in Hof am Schluß der Geschichte, und hinter ihr hängt ein gerahmtes Foto von John Ford. Und: „Wenn keine Veränderung mehr möglich ist, hat alles andere keinen Sinn“, sagte der, der sich doch entscheidet, seinem unvermeidbaren Leben nicht davonzufahren; und er akzeptiert: „Es muß alles anders werden. So long.“
Wim Wenders diskutierte nach der Vorstellung über seine Filmarbeit; die Fragen, die er beantwortete, wären bei intensiver Aufmerksamkeit überflüssig gewesen. kd
- Sonniger Tag, in der Nähe der Dämmerung Schäfchenwolken.
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