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Mrz

4.3.2002

Die Theorie damals lautete, daß man sich als Intellektueller, als Angehöriger der Schicht der Intelligenzia, mit dem Proletariat zu verbünden und alle Freischweberei zu unterlassen hatte. Leider interessierte sich das Proletariat, auch in Biberach, herzlich wenig für das, was die Oberschüler und werdenden Studenten und die vereinzelt auch auftretenden Auszubildenden, Lehrlinge sagte man zu ihnen, und heute vermutlich auch noch, ihnen auf Flugblättern und an Info-Ständen zu vermitteln versuchten; denn bei Versuchen blieb es. Das Proletariat war eben auch in den eigenen Reihen kaum vertreten, aber das sollte, für ein paar Jahre hielt die Hoffnung seltsamerweise vor, noch kommen; einhermarschieren. Der Idealismus der Jugend und sein kleines Pathos. Die, die von der revolutionären Theorie etwas Ahnung, sogar Wissen, hatten (viele waren es nicht), waren einer materialistischen Philosophie verbunden, „glaubten“ es wenigstens zu sein, dachten und handelten aber durchweg idealistisch. Auch das war eine Dialektik, und überhaupt will ich mich gar nicht lustig machen. Ich schwor nicht ab wie die meisten, die sich groß taten und heute Beraterpöstchen in Außenministerien einnehmen oder gleich dem Ministerium vorstehen; die von den maoistischen und spontanistischen Gruppen, Ex-DKPler wird man dort nicht finden. Aber das klingt ja schon wieder pathetisch, vielleicht etwas gebrochener als damals; noch gebrochener, wäre zu schreiben, denn war das mein Ernst gewesen, meine Überzeugung, von der ich durchdrungen hätte sein sollen, das mit den „arbeitenden Massen“, die der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus zur materiellen Gewalt verhülfen? Ich entsinne mich noch genau an den Spätnachmittag, an dem ich das tippte, wie ich vor der kleinen Olivetti-Reiseschreibmaschine stand, denn ich schrieb damals im Stehen. Die Schreibmaschine, die meine Mutter sich in den frühen Sechzigern gekauft hatte, um ihre Texte – denn sie schrieb humoristische Gedichte für gesellige Anlässe in ihrem Verband – auch einmal aus der Hand geben zu können und weil eben eine Schreibmaschine in den Haushalt, den modernen, sowieso gehört, und auf der ich gelernt hatte, mit zehn Fingern zu schreiben – wenigstens das hatte ich im Wirtschaftsgymnasium gelernt – und auch die ersten Texte dann schrieb, stand auf einer schwarzen Jugendstilholzsäule aus dem Besitz des alten Hauseigentümers, die ihre alte Bekanntschaft mit dem Schreibtisch, der ja auch aus der Mansarde stammte, für diese restlichen Jahre in der Lindelestraße 2 nicht aufgeben mußte; sie stand unmittelbar neben dem Schreibtisch, und zwar vor dessen linker Breitseite, so daß der Blick während des Schreibens über den Schreibtisch hinweg aus dem Westfenster meines Zimmers schweifen und draußen die Lindelestraße nach Westen überqueren konnte, Richtung Abenddämmerung. Beim Schreiben dieser Rezension regten sich tief in mir die üblichen Zweifel, denn die bisherigen Erfahrungen – nicht nur mit der Arbeit der eigenen Gruppe, auch die, die andernorts gemacht wurden – waren nicht ermunternd; das Ziel, soviel stand fest, lag in weiter, weiter Ferne. Diese Texte wurden also mit viel Möglichkeitssinn geschrieben. Was Utopisches klang stets mit, in einer Zeitschrift für spekulative Thematik durfte das ja sein, und daran war vermutlich die große Sache selbst nicht ganz unschuldig, denn, mal ehrlich: die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, die Engels behauptete, war irgendwie stecken und immer nur Utopie geblieben, woran die Beschwörungsformel vom jetzt tatsächlich wirklich real existierenden Sozialismus auch nichts ändern konnte, und diese Formel des SED-Sozialismus machte auch schon jeden hellhörig, der hören (und sehen) konnte, denn die Befürchtung, daß dem noch nicht so sein und daß dies ruchbar werden könnte, auch den Sozialisten im eigenen Lande, die eh nur die Minderheit waren, bildete den Unterton dazu. Der Sozialismus bleibt Utopie; nicht viel, aber immerhin. (Also doch abgeschworen?) Aber so defaitistisch dachte ich damals doch nicht, und natürlich wäre es ungeschickt gewesen, hätte man sich allzu viel von diesen Zweifeln anmerken lassen; schädigte die Bewegung. Aber welche? Jedem Linken damals, der noch ein bißchen helle im Kopf war, war klar, daß das, was sich als Sozialismus zeigte, dem Sozialismus schon irreparable Schäden zugefügt hatte. Ich war DKP-Funktionärchen, Kommunist, und hielt nicht viel vom DDR-Sozialismus, vom „Kommunismus“ der Sowjetunion gar nicht zu reden. Mir war klar, daß die DKP von der SED finanziert wurde, meine Vorstellungen von Sozialismus waren andere. Neue Linke, so hieß das wohl; die sich in die Orthodoxie begeben hatte, weil dort nun einmal die funktionierenden Strukturen waren, mit denen man arbeiten konnte.
Das ist lange her und rückt doch sehr nahe an mich heran, hier in Berlin-Mitte, das „Ostberlin“ war, das Machtzentrum der „Hauptstadt der DDR“.
- Ein sehr grauer Tag.
4.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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