3
Mrz

3.3.2002

1968, ich war noch in der letzten Realschulklasse, stieß ich während meiner exzessiven Science Fiction-Literaturlektüren auf eine Anzeige des „Science Fiction Club Deutschland e.V.“. Ein neuer Lebensabschnitt begann, ehe der alte geendet hätte; vor allem wußte ich es nicht. Ich wurde Mitglied, nötigte meiner Mutter ihre Unterschrift ab. Bald bezog ich eine Reihe von Fanzines, von den Herausgebern in Eigenproduktion hektographierte Blättchen unterschiedlicher Qualität und Quantität, wobei der Begriff „Qualität“ sehr fanspezifisch eingeordnet werden mußte; und muß, oder sollte. Ich erhielt das Clubmagazin „Andromeda“, ein oft umfangreiches Ding auf besserem Saugpostpapier, dazu, öfter, die „SFCD-Nachrichten“ mit wenigen aktuellen Seiten, das Heft „Slan“ aus Berlin (deshalb wohl kommt es mir nun sofort in die Zeilen), ein paar andere, deren Namen zu ermitteln mir nur möglich wäre, wenn ich im Keller einige der mit Klebeband versiegelten Kartons öffnen würde, und die „Science Fiction Times“.
Diese Zeitschrift, die diese Bezeichnung sich zu verdienen im Begriffe war, war nicht nur die beste, sondern – dem Geist der Zeit zu Diensten! – auch eine linke, wenn sich auch nicht alle der Schreiber dieser politischen Richtung verpflichtet sahen. Ich hatte ein paar der zweimonatlich, circa, ankommenden Ausgaben gelesen, als ich zur Frage „Warum engagierte Kritik?“, die in einer von ihnen als Diskussionsanregung speziell für das „Fandom“, die Gemeinschaft der Fans, in dem sich, man muß es sagen, auch reichlich tumbe Zeitgenossen tummelten, gestellt worden war, einen kleinen Aufsatz schrieb, denn in Aufsatz war ich gut. Nicht lange danach kam aus Bremerhaven von H.J.Alpers – später einer der bekanntesten Herausgeber, deutschen Autoren und Kenner der Materie – Post aus Bremerhaven, wo er als Chefredakteur des Blattes saß; ich war aufgefordert, mich den anderen – honorarfrei liefernden – Mitarbeitern hinzuzugesellen. 1969 stand mein Foto neben denen der anderen auf der Titelseite der Nummer zum zehnjährigen Bestehen der „SFT“, wie sie nur genannt und zitiert wurde, aufgereiht: ein etwas feminin und sanft dreinsehender Siebzehnjähriger mit schon längeren Haaren in einem grünen parkaähnlichen Anorak, und die ersten Rezensionen waren auch schon abgedruckt. Ich gehörte der Redaktion der SFT, die immer marxistischer, wozu auch ich beitrug, und immer besser wurde, bis zum Herbst 1975 an. Den Science Fiction Club hatte ich 1970 oder 1971 schon wieder verlassen, zu reaktionär. Dafür war aus der Redaktion der Zeitschrift, der anzugehören ich das Vergnügen hatte, die AST hervorgegangen, die „Arbeitsgemeinschaft Spekulative Thematik“. In diesen Jahren schrieb ich etliche Rezensionen und Berichte „Vom Zeitgeist“, wie einer der Beiträge lautete, war bei den Redaktionskonferenzen in Wuppertal, Düsseldorf, Hamm und Frankfurt am Main dabei (damals gab es nur dieses Frankfurt ...), die gaben Anlässe für Kurzreisen, und war als Mitherausgeber, 1975, des „Lexikons der Science Fiction“, geplant als umfangreiche zweibändige Taschenbuchausgabe, im Ankündigungsprospekt des Fischer-Taschenbuchverlags schon ausgedruckt und angekündigt, als diese Holtzbrinktochter, als sie die Verlagsleitung übernahm, das ganze Projekt aus dem Programm warf; neben anderem, und die Lektorin gleich mit dazu. Das Programm war zu links, die Zeit, in der man mit linkem Vokabular gesättigte Sekundärliteratur verkaufen konnte, neigte sich rapide ihrem Ende entgegen. Ich war für das zentrale Kapitel „Ideologie der Science Fiction“ mit allen seinen Verzweigungen, für das ich schon einen Schnellhefter mit Rohmanuskripten gefüllt hatte, zuständig gewesen, und das war nun unmöglich geworden. Bei der Lektoratsbesprechung im Hause Fischer während der Buchmesse – jene, die als Trost für mich den wunderbaren Augenblick bereithielt, in dem ich von Franz Rottensteiner, Herausgeber der Phantastischen Bibliothek bei Suhrkamp und seines allen Regeln der literaturwissenschaftlichen Kunst entsprechenden Fanzines „Quarber Merkur“ und Mitarbeiter der SFT, Stanislaw Lem vorgestellt wurde, wie ich aber vielleicht schon erwähnte – wurden dem Buchvorhaben Quantitätsprobleme vorgeworfen: zu viel, zu dick. Wir boten Kürzungen an, aber zwei Wochen später schon war die Sache gelaufen. Den kleinen Vorschuß versoff ich im „Strauß“. Das Manuskript erhielt ich nie wieder. Anfang der Achtziger entdeckte ich beim Blättern in einer Buchhandlung in Biberach, als ich mich kundig machen wollte, ob die Bekannten – hübsch stabgereimt, nicht? – von früher noch in Science Fiction machen, daß dieses Lexikon, in anderer Zusammenstellung, mit weniger Umfang, unideologisch und natürlich ohne meine Texte in einem anderen Verlag schon lange erschienen war. Zunächst nicht erfreut, weil man mich ja hätte fragen können, ob ich unter veränderten Bedingungen auch mitmachen würde, nahm ich es den anderen nicht lange übel. Ich hatte mich ja nach dieser Buchmesse nie wieder bei ihnen gemeldet, weder mit Besprechungen für die SFT noch mit Briefen (oder doch mit Briefen?). Sie konnten dann auch meine Adresse nicht mehr haben, denn meine Mutter und ich waren aus der Lindelestraße ausgezogen.
Im Herbst 1981 aber erhielt ich doch noch einmal eine Nachricht aus jenen Tagen. Irgendwie hatten sie meine Adresse ausgegraben. Wieder trudelte eine Jubiläumsausgabe der SFT ins Haus, Nr. 150, die auch zurückblickte auf die bewegte Zeit der frühen Siebziger, und ich fand meine Rezension zu Meyrinks „Der Golem“ abgedruckt, aus der Nr. 132, von 1973. Hier ist sie:

„DER GOLEM
1.
Wenn er losgeht, dann: wohin und wozu? Denn inzwischen sei er sein eigener Herr geworden, habe er sich losgerissen von den Fesseln wohlbedachter Bestimmung. Nun irre er, plump und monströs, eher taumelnd als dunkel und fest einherstampfend, durchs Leben, das ihm keines ist.
2.
Die Existenz jenes Nicht-Menschen, den der Rabbi Löw des Prager Judenviertels in mittelalterlichen Zeiten mit kabbalistischen Mystizismen ins hiesige Jammertal gesetzt habe, auf daß er der Gemeinde ein frommer und gehorsamer Diener und Gehilfe sei, ist nie zu beweisen gewesen. Aus diesem Grunde zum Mythos geworden, können wir trotz oder vielmehr gerade wegen seiner Faszination, die er ausstrahlt, Konkretes entdecken. Mythos nährt sich ja aus Konkretem, aus Gesellschaftlichem, und gerade die gesellschaftlichen Bedingungen, denen die Menschen als Noch-Entfremdete unterworfen sind, produzieren in menschlichen Hirnen jene Gespinste aus Nichtwissen, Ungewißheit und Aberglauben, durch die sie kommenden Geschlechtern die quälende Dumpfheit ihres Seins übermitteln. Die metaphysische Faszination des Mythos ist deshalb transzendent zur Wirklichkeit und nicht nur zur Wirklichkeit seiner Entstehungszeit, vielmehr darüber hinaus zur Realität des gesellschaftlichen Stadiums, in dem er fest im Sattel sitzt.
Die Figur des Golems, ein Mythos? Nicht ein einzelner nur, sondern als solcher ein ganzer Komplex von Vorstellungen, Wünschen und Schrecken, die sich in unserer eigenen – eigenen? – Wirklichkeit zumindest noch behauptet haben, ja vermehren, aber nurmehr als hohle Popanze mit dem lächerlichen Glanz der Talmiwelt zu prunken versuchen.
Was für die Fiktion des Golems fundamental ist, hat menschliches Denken seit jeher aufs Angestrengteste beschäftigt: Leib und Seele, Körper und Geist, Sein und Bewußtsein. Materie und Idee als eins sehen können, den Schöpfungsvorgang vom metaphysisch-göttlichen Prozeß zum menschlich-konkreten vergegenständlichen lautete seit alten Zeiten der Wunschtraum. Beim Traum allerdings ist es nicht geblieben. Marx und Engels folgten auf Hegel und Feuerbach, was nicht heißt, daß kein Träumen mehr sei. Das Handeln war revolutionärer, fegte überkommene gesellschaftliche Verhältnisse hinweg, um neuen, gezeugt von eben jenen, den ihnen gebührenden Platz zu verschaffen und zu sichern. Aber die Überwindung der alten, überkommenen, reaktionären Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, wie Marx sagt, ist für uns, die wir in der imperialistischen Klassengesellschaft des Monopolkapitals zu leben scheinen, noch zu leisten. Hierfür haben wir das Instrumentarium des Marxismus-Leninismus, das uns nicht in den Schoß fällt, sondern in täglicher Praxis erworben sein will.
Die Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft durch den wissenschaftlichen Sozialismus löste die Träume des utopischen Sozialismus von einem menschenwürdigen Dasein ab und gab Möglichkeit zu erkämpfen, was nur geträumt worden war, und der Kampf geht weiter, weiter Tag für Tag. Dennoch träumen wir, aber konkret und mit Ratio: von der klassenlosen Gesellschaft, in der der Mensch eins wird mit sich selbst. Der Golem ist ein anderer Traum, der seinen Schöpfer als unerbittlicher Alb zu ersticken droht.
Doch warum? Die Dichotomie von Materie und Bewußtsein, als Trennung von Leib und Seele zumal in der christlich-abendländischen Religiosität. Dogma, existierte ja nie im Konkreten, aber immer als umgekehrte Verarbeitung jeweiliger trister Klassenverhältnisse der „Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft“. So enthüllt sich die Fiktion vom Golem als Versuch unter ungenügenden Voraussetzungen, den göttlichen Schöpfungsvorgang ins Menschliche zu transformieren, und zwar fürs erste mit Hilfe göttlichen Einverständnisses, wie es sich beispielsweise im Gebrauch der jüdischen Kabbala ausdrückt.
Wieso also, um erneut zu fragen, entgleitet der gehorsame Diener der Herrschaft seines Herrn und Meister? Bezeichnend zumindest, wie Herr Rabbi Löw den Golem belebt: Hier beherrscht der Geist noch unangefochten tote Materie, doch schon ist deren Formung Menschenwerk. Die metaphysischen Qualitäten werden noch verehrt und respektiert, untertänig darüber hinaus, aber gewisse Verhältnisse lassen den Gedanken keimen, ob es allzu frevlerisch sei, sie zur Verbesserung dieser zweifellos recht bedrückenden Verhältnisse wirken zu lassen: zur Schaffung des Golems. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott! Das Pathos des calvinistisch-puritanischen Bourgeois ist die historisch logische Folge. Eine andere Losung – der Erfolgreiche ist Gott wohlgefällig! – charakterisiert ein fortgeschritteneres Stadium des Aufschwungs bourgeoiser Produktionsverhältnisse, und den Apologeten erscheint es ordinär und nicht sehr fein, erinnert man, daß diese Losungen öfters als zuweilen als Schlachtrufe im Getümmel neuer Absatzmärkte tönten.
Aber der Versuch, den Golem als willfähriges Objekt zu gebrauchen, sei ja gescheitert. Kein Schlachtruf, höchstens Laute des Schreckens. Freilich war’s für solch Propaganda des bürgerlichen Vorwärtsdranges auch noch nicht Zeit, denn die Entwicklung der kapitalistischen Produktions- und Verkehrsverhältnisse hatte eben erst begonnen. Im Überbau, in der weltanschaulichen Kategorie, in der Philosophie behauptete der mittelalterliche, feudalistische Idealismus seine Stellung noch fast unangefochten. Fast, denn schon läuteten die Totenglocken den Untergang der feudalistischen Klassengesellschaft ein. Die neue Klasse drängte nach oben, und die Fugger und Welser praktizierten nicht nur ganz neue Methoden des Handels und Wandels, sie suchten sich auch der lästigen Lehren und Institutionen höfischer Herrschaft zu entledigen. Frühbürgerlicher Humanismus und die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Kopernikus‘, Keplers und Galileis, beides untrennbar miteinander verflechtet zu sehen, waren Zeugnis und Ansporn zugleich. Der Golem, „Zeitgenosse“ Thomas Hobbes‘, des ersten Denkers des mechanischen Materialismus‘, und Gottfried Wilhelm Leibniz‘, der zwar dem objektiven Idealismus verpflichtet war, mit seinem System der Monade aber einen Beitrag zur Entwicklung des philosophischen Materialismus gab, ist als Mythos das Spiegelbild jener aufeinanderstoßenden Kräfte. Der Verlust an Kontrolle über ihn zeugt nicht nur von – trotz göttlichen Zuspruchs – kaum verdrängter Angst vor dem ans Frevlerische grenzenden Werk, vielmehr zeigt sich daran, überhöht im Abstrakten der gesellschaftlichen Basis, die noch völlig unzulängliche Durchbildung und Vervollkommnung eben jener Basis, der bourgeoisen. Hierin ist noch sehr viel von der Verwirrung und Unsicherheit übers „neue Zeitalter“ versinnbildlicht, und dazu noch mindestens gleichrangig Bedrängnis, Untergang der vorhergehenden Gesellschaftsordnung.
Das blieb nicht so. Die Wissenschaften blühten, Althergebrachtes wurde kritisiert. Der Manufakturbesitzer schickte seine Agenten in den Vorhof der Macht, die Intelligenz seiner Klasse legte sich feurig und aufgeklärt über die neuen Verhältnisse ins Zeug. Die nüchterne Vernunft der Maschinen und Bilanzen bahnte sich stetig, dann revolutionär ihren Weg. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit freilich, der neuen Herren schöne Ideale, waren letztlich nur im Kopfe der Poeten noch zu haben. Es war nämlich keineswegs die Freiheit des Manufakturarbeiters, keineswegs seine Gleichheit. Und Brüderlichkeit mit dem Bourgeois gab’s zwar noch eine Weile, doch das gab sich bald. Es war die Freiheit der ungehemmten Prosperität, die Gleichheit des Bourgeois mit seinesgleichen, auf die zunächst großer Wert gelegt wurde, die Brüderlichkeit im Kampf gegen die feudalen Reste. Das Motiv der Vermenschlichung des Schöpfungsvorgangs wandelte sich entsprechend. Der aufgeklärte Bürger des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts hielt nur mehr wenig von Magie, die Möglichkeiten aufstrebender Wissenschaften faszinierten ihn statt dessen um so mehr. In geheimnisumwitterten Laboratorien wägen Homunculusmacher die Ingredienzien des Lebens, und die Produkte der Phiolen und Gefäße brauchen keinen höhern Geist. Die Faustsche Frage nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, wird dadurch zwar nicht beantwortet, Wesen und Verhalten des Homunculus aber lassen dem Streber nach Wesentlichstem die Hoffnung des Anfangs. Gleichzeitig fast schrieb die Mary Shelley ihren FRANKENSTEIN ODER DER NEUE PROMETHEUS. Der neue Prometheus! Das war treffend, das spricht deutliche Sprache!
Zwei Tendenzen vor allem charakterisieren die Thematik: die eine weist auf wesentliche Inhalte romantischen Denkens hin, die andere spricht von früher Fortschrittseuphorie der kapitalistischen Gesellschaft. Die romantischen Denkmodelle waren ja nicht einheitlich, sondern Überbauprodukte differenzierter bürgerlicher Entwicklung in England, Frankreich, Italien und Deutschland, gemeinsam aber geistige Reaktion auf die Französische Revolution und die Napoleonische Ära. Die täglichen Begleitumstände kapitalistischer Produktionsweise – Arbeitsteilung, allgemeine Verkrüppelung der menschlichen Persönlichkeit und beginnende Zerstörung der Natur – wurden von den Romantikern von rechts her kritisiert: in der kontemplativen Hinwendung zu Individuum, Natur und letztlich Metaphysik allein liege die Möglichkeit zur Änderung. Für’s stille Glück im Winkel ist Vernunft nur mehr störend. Die Hoffnung, Sein und Bewußtsein als Ganzes betrachten zu können, äußert sich für dieses Mal in der Sehnsucht nach harmonischem Einklang mit der Natur und im Glauben an die kosmische Kraft stiller Liebe. Die heroische Anstrengung menschlicher Vernunft, wie sie sich 1789 zu begeisternden Taten aufzuschwingen versuchte, war doch, wie sich derweilen gezeigt habe, nur scheinbar mächtig gewesen; die lichten Vorhaben der Revolution wandelten sich in jakobinischen Terror, und dann? Napoleon, ein Zeitalter europäischer Kriege, Unsicherheit und Ungewißheit aller Orten.
„Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seines ganzen Daseins im Unermeßlichen“ – schrieb Schleiermacher in seinen REDEN ÜBER DIE RELIGION.
Frankenstein, „der neue Prometheus“, verkörpert diese romantischen Motive aber nicht lupenrein. Zwar scheitert er ja mit seinem Versuch, einen künstlichen Menschen zu schaffen, ganz nach dem Urteil Schleichermachers, die andere Komponente jedoch spielt nicht minder kräftig herein: Frankenstein ist nicht nur ausschließlich eine Figur aufklärerischer Vernunft, als die er im Sinn der Romantik fehlgeht, sondern ebenso früher Archetyp des bürgerlichen Wissenschaftlers in der beginnenden Hochblüte des englischen Kapitalismus, und als solcher experimentiert er mit jener kühlen Sachlichkeit und Cleverness, der sich der Kapitalist im Umgang mit neuen Produktionsmethoden bedient. Vielleicht lassen sich in diesem Verhalten auch schon Ansätze, Züge technokratischen Wissenschaftsverständnisses finden?
3.
Kaum überraschend, daß Meyrinks GOLEM gerade 1915 zum ersten Mal erschien. Wieder manifestierten sich umgreifende gesellschaftliche Modifikationen in entsprechendem Ausmaß in Literatur und Kunst, wobei das Künstliche auch schon zu erkennen war. Zumal der bürgerliche Intellektuelle im Deutschland jener Jahre empfand den Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus vorwiegend nur unbewußt; dunkel jedenfalls schien ihm die Zukunft, und ein ungewisses Schicksal nahte sich dräuend, entschlossen vielleicht, die herkömmlichen Muster und Strukturen gänzlich zu verändern. Dabei fühlte man sich aber dem Bisherigen nicht mehr verbunden, denn sehr gut wurde erkannt, daß das patriarchalische Bürgertum des 19. Jahrhunderts abgebaut hatte. Die wenigsten seiner Helden nur versuchten noch zu leuchten; Götterdämmerung schimmerte. Thomas Manns BUDDENBROOKS sind nur die offensichtlichsten Vertreter, sie stehen auch erst am Anfang. Die Artikulationen des „dunklen Zeitalters“ waren vielfältig: Dandytum und ernstes Warnen, verzweifelte Todessehnsucht und – schon überwindend weiterführend – bissige Kritik am wilhelminischen Bürokratenstaat. Und alles das in verflechtenden Nuancen. Primär die mondäne und morbide Welt der Decadence, die Salons der bürgerlichen Snobs und aristokratischen Absteiger, machte auch hierzulande Stimmung, und das in der deutschen Art. Mit Oscar Wilde und Marcel Proust waren England und Frankreich zwar schon weiter, dazu repräsentierten sich beide nach ihrem eigenen, höchst kultivierten Gusto, jedoch die „Wollust des Untergangs“ spukte auch in deutschen Dichterköpfen. Todeswonne schilderte gerade wieder Thomas Mann in seiner 1913 erschienenen Novelle DER TOD IN VENEDIG; im morschen Glanz der Stadt am Lido verklärt sich bürgerlicher Niedergang in elegische Intensität dichterischen Scheiterns.
In solcher Atmosphäre gedieh auch Übersinnliches recht gut. Der mythische Golem wurde bei Meyrink zu einer okkultischen Gestalt, die als schemenhaftes Wesen zu metaphysischer Erhöhung helfend Beispiel setzen will, Sinnbild für jenen, der „Zugang sucht zu höheren Welten“, wie Eduard Frank im Nachwort der vorliegenden Ausgabe zur Erklärung des Motivs meint. Auf diese mystische Weise taucht die Mythosfunktion des Golems während einer Ära schärfster Klassenkämpfe wieder auf, die Kontinuität ihrer vorwärts gerichteten Sehnsucht aber wendet sich nun ins eher Verharrende: die Gestaltung der Thematik rührt nun her von tastender Bewältigung ideologischer Aspekte im Überbau des imperialistischen Klassenstaats Deutschland. Freilich – mit der Bewältigung war’s nicht weit her. Im Aufgreifen des Golemmotivs zu diesem Zweck läßt sich schon erkennen, daß der Golem nun endgültig zum Schreckgespenst klischiert werden wird: Negativ unkontrollierter Gewalten des Imperialismus, Künder unheilvoller Katastrophen, Hermes von erschreckender Monstrosität. Der Film-Golem ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Über die UFA-Produktion mit Paul Wegener und Filme ähnlicher Thematik schrieb schon 1932 Ernst Bloch im Aufsatz BEZEICHNENDER WANDEL IN KINO-FABELN: „Der Golem ist bereits der riesenhaft aufsteigende faschistische Mörder, er ist die Technik mit falschem Bewußtsein, die Angst eines Amerika, ohne prosperity, vor sich selber. (...) Prognose von neuer Angst, neuer Ungeborgenheit (kein Wunder auch bei diesem Wetter), Zeichen eines zu Ende laufenden Zeitalters, das seine Mitternachtsglocke hört.“
Der Golem ist also zum Exempel der falsch-bewußten Fortschrittsfeindlichkeit geworden. Auswuchs mystifizierter Technik; das ideologische Element des Mythos, eh sein wesentlichstes, zeigt in ihm, was es zu leisten hat. Golem, King Kong, Godzilla, Computerherrschaft: Vexierbilder imperialistischer Klassenverhältnisse, Ausbeutungsverhältnisse, Unterdrückungsverhältnisse; augenscheinliche Parasiten der entfremdeten Massen. Und noch immer up to date.
SCHAUT EUCH NICHT UM, DER GOLEM GEHT RUM hieß ein erst unlängst gesendeter Fernsehfilm, der wieder warnen wollte vor „bedrohlichen Tendenzen in der Entwicklung der Menschheit“. Doch wie gehabt, die Warnung war nichts Neues. Die Behandlung des Motivs kennt man aus der Science Fiction. Sie aber greift nur zu dem, was im Überbau feilgeboten wird. In ihm sieht es trübe aus. Es geht, so scheint’s, zu Ende: Zerstörung und Widersinnigkeit überall, das Mittel, sie zu hemmen, verrostet und schrottreif: Vernunft – nicht mehr zu haben. Aussichten: übel. Menschheit wohin? Spätbürgerliche Ideologie der Verzweiflung lamentiert so und ähnlich. Mit Recht, allerdings, denn in ihr kommt zum Vorschein, was ist und doch nicht sein darf: Untergang der eigenen Klasse, Fäulnis der als ewig konzipierten Zustände. Fäulnis aber schmeckt süßlich, Zerfall fasziniert; jenen vor allem, der sich selbst davon betroffen sieht. Und so präsentiert sich die Tradition des bürgerlichen Schwanengesangs aufs Exemplarische, wenn in Luchino Viscontis Verfilmung der schon erwähnten Mann-Novelle die Musik von Gustav Mahler rauscht und wogt und weht, wehmutsvoll-pathetischer Abgesang einer todgeweihten Klasse. Der Untergang des Individuums in der Masse wurde und wird in den vielfältigen Nuancen bourgeoisen Selbstverständnisses beklagt, und wenn beispielsweise Eugene Ionesco in seiner Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1972 eben den Vertretern der Bourgeoisie globale Finsternis prophezeite, entlarvt er die Funktion seiner Botschaft selbst.
So sollte uns das mene tekel nicht groß stören. Die herrschenden Gedanken sind nicht mehr ausschließlich die Gedanken der Herrschenden. Die Theorie des Sozialismus wurde zur materiellen Gewalt, indem die arbeitenden Massen sie ergriffen. Der idealistischen Geschichtsauffassung des Kapitals, die den allgemeinen und endgültigen Untergang beschwört, steht der wissenschaftliche Sozialismus gegenüber, die Weltanschauung der siegreichen Arbeiterklasse.
Also kein Golem mehr in der Zukunft, kein King Kong, kein durchgedrehter Roboter? Zunächst noch; das zu verneinen hieße die lebendige Dialektik der Geschichte nicht zu berücksichtigen. Also wenigstens danach bewußte Kontrolle über die vormals beherrschenden Strukturen? Gewiß, aber nur von goldenen Sternen zu träumen und den Kampf ums Notwendige „links“ liegen zu lassen, hieße, das Ziel nie zu erreichen. Also noch einmal: Träumen mit Ratio.
Klaus Diedrich“

- Sonnig. Langsame Eintrübung nachmittags, dann ein kleines Regentröpfeln.
3.3.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6831 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren