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Mrz

1.März 2002

Dennoch bin ich Proustianer. Im Sommer 1974 las ich, bis in den Herbst hinein, jeden Tag in der „Recherche“. Aus der Stadtbücherei, die in Biberach damals in einer der beiden spätmittelalterlichen riesigen ehemaligen „Schrannen“, also Scheuern, untergebracht war, mitten in der Stadt am schön eingefaßten Marktplatz, holte ich mir die drei Dünndruckbände von Suhrkamp, und wenn für den jeweiligen Band die Ausleihfrist abgelaufen war, ließ ich sie verlängern. Ich war fertig mit der Lektüre, als ich ins erste Semester an die politikwissenschaftliche Fakultät der Universität Stuttgart ging und wußte, daß das das Buch war, das mich bis dahin am stärksten beeindruckt hatte; und so ist es bis heute. Ich habe viele Bücher gelesen, aber keines kommt an die „Recherche“ heran. Seit jener Lektüre, die mir trotz ihrer Intensität auch Zeit für einen auch erotisch getönten Sommer ließ, interessierte ich mich immer für alles, was mit Proust zu tun hat; aber es dauerte sehr lange, bis ich ihn wieder las. Als ich die „Recherche“ zum ersten Mal las, war ich ein junger Mann, der seine Zeit verschwendete und vergeudete, beim zweiten Mal war ich fünfundvierzig Jahre alt; und verschwendete meine Zeit noch immer. Bei 9der zweiten Lektüre im Herbst und Winter 1996, die allerdings nicht den gesamten Roman umfaßte, sondern nur Teile, die ich las, um mir wieder einen Überblick zu verschaffen und um zu wissen, welche Passagen des Riesenwerks sich für ein Vorlesen eignen würden, hatte ich oft das Gefühl, nun in jenem Alter zu sein, in dem auch der Erzähler während der Matinée bei der Prinzessin von Guermantes im letzten Buch des Romans „Die Wiedergefundene Zeit“ ist, in dem er durch die verschiedenen Evokationen, die ihm geschehen, zu der Hoffnung findet, doch den Roman schreiben zu können, den zu verfassen fähig zu sein er so lange Jahre der „verlorenen Zeit“ immer bezweifelte. Im Roman ist der Erzähler wohl noch ein paar Jahre jünger als ich es im Winter 1996 war. Auch ich hatte nun das Vergehen, das eigenartig rasche Vergehen der eigenen Jahre an meiner Umgebung und an mir selber feststellen können; und mich stärker als je zuvor fragen müssen, was ich aus diesen Jahren mitgenommen hatte; und das war wenig. Die Erfahrung des Empfindens der verlorenen, vertanen Zeit, von der ich als Zweiundzwanzig- und Dreiundzwanzigjähriger – denn dieses „Recherche“-Lesen vor vielen Jahren ging über meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag im September 1974 hinweg – gelesen hatte, war 1996 in mein Leben gekommen, aus Literatur war Erlebtes und Empfundenes geworden.
In Notizen für jenen Abend Ende Februar 1997, in dem ich versuchte, die Zuhörer – zwanzig und einige dazu – an Prousts Welt anzunähern, wofür ich mit dem Anfang des Romans, in dem der Leser sich Swanns Welt nähert, begann, spürte ich schon den Erinnerungen an jene erste Lektüre nach und erinnerte mich gleichzeitig noch einmal „neu“; denn das waren zwei verschiedene Vorgänge. Und nun erinnere ich mich daran, wie ich mich erinnerte, wie Marcel sich erinnerte ...; ich erinnere mich gleichzeitig an mein Leben. Ich erinnere mich zum Beispiel daran, daß ich damals, in den Siebzigern, dachte, daß ich mich eines noch nicht vorstellbaren Tages daran erinnern werde, was ich in der Zeit der ersten Lektüre dieses Romans tat.
Bevor ich im Februar 1997 aus „In Swanns Welt“ – wie der Titel in der alten Übersetzung lautet – in jenem zur Bar ausgebauten Kellergewölbe der Gaststätte „Woodpecker“ an der Theaterstraße in Biberach vorzulesen begann, las ich eine kleine von mir verfaßte Einleitung, die freilich vieles von Prousts Werk vernachlässigen mußte.
- Am Vormittag konnte man „Regentag“ zu diesem Tag sagen. Im späten Mittag hellte er sich auf, Sonne kam und blieb, wenn auch von Dunkelwolken gestört, die gegen den frühen Abend dichter wurden und Regen brachten, der aber nicht sehr lange fiel. Ein empfindlich kalter Wind blies durch den Tag.
1.März 2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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