10
Feb

10.2.2002

Heute ist Sonntag. Ich schaue zurück in einen beliebigen Sonntag im Winter, beispielsweise einen im Jahr 1966, oder in einen der Februarsonntage von 1967. Natürlich stand ich spät auf. In den Jahren zuvor, um diese beiden Jahre für ein paar Minuten auch schon wieder zu verlassen, hatte ich meine Mutter zum Gottesdienst zu begleiten, der entweder in der Stadtpfarrkirche oder, in der ersten Hälfte der sechziger Jahre, in der damals neuen Kirche am Krummen Weg, die genau gegenüber der Wohnung von Frau H. steht, zelebriert wurde; der evangelische Gottesdienst. Habe ich schon mitgeteilt, daß ich bis 1972 dieser Glaubensgemeinschaft angehörte? Ende des Winters 1972 trat ich dann aus der Kirche aus. Nach der Konfirmation, sie fand wohl 1965 statt, als ich vierzehn Jahre alt war, ging ich nur noch selten und nur meiner Mutter zu Gefallen in die Kirche mit und bald gar nicht mehr. Während des Konfirmationsritus in jener neuen Kirche, in der ein Pfarrer Blum seines Amtes waltete, an einem sehr sonnigen Frühjahrssonntag, hatte ich den Unwillen meiner Mutter hervorgerufen, weil ein Mitkonfirmant und ich uns nicht sehr feierlich-religiös verhielten, etwas pubertär kicherten und tuschelten und die Angelegenheit nicht sonderlich ernst nahmen; der Konfirmantenunterricht schon war ausgesprochen langweilig gewesen, mein religiöses Empfinden war in Auflösung begriffen; meine Mutter hatte mich nach der Zeremonie, noch bevor wir nachhause gingen, ärgerlich angefahren: „Du hast gelacht, das gehört sich nicht!“ Der Rüffler wurde weggesteckt und war vergessen. Bei dieser Konfirmationsfeier in der Wohnung in der Lindelestraße am Nachmittag machte man noch einmal auf Familie, ich war teils belustigt, teils etwas irritiert, weil eine Situation gespielt wurde – meine Mutter hatte zahlreiche ihrer Freundinnen und Bekannten eingeladen, auch ihre Kusine und deren alte Eltern, die Ende der fünfziger Jahre aus der polnisches Gebiet gewordenen Heimat nach Zwischenstationen in Biberach angekommen waren, saßen dabei, und Verwandtschaft väterlicherseits, der Patenonkel (nehme ich an) und seine Frau waren aus Göttingen angereist –, die Wirklichkeit hätte sein können: mein Erzeuger war ebenfalls gekommen, und ich persönlich hatte ihn unten an der Haustür empfangen.
Im Februar 1967 war mein Bedürfnis nach göttlichem Zuspruch gering, und blieb es danach, was heißt, daß es sich verflüchtigte, wie unsereins sich eines Tages verflüchtigen wird, so war es an einem Sonntag oft so, daß ich erst aufstand, als meine Mutter schon zum Gottesdienst gegangen war. (Die Phase des Ausleihens in der Kath. Bibliothek war inzwischen vorüber. Doch nicht jeden Sonntag absolvierte meine Mutter ihren Kirchgang.) Ich las in aller Regel etwas, wenn sie dann zurückkam und sich in der Küche der Zubereitung des Mittagessens widmete, das gegen dreizehn Uhr eingenommen wurde. Während des Mahls lief das Radio, wir hörten, und zwar fast jeden Sonntag in fast allen Jahren der Sechziger, nur gegen Ende des Jahrzehnts hin nicht mehr regelmäßig, die Sendung „Autofahrer unterwegs“ des österreichischen Rundfunks, eine Live-Sendung aus Wien, in der immer alle möglichen Berühmtheiten jener österreichischen Jahre als Gäste auftraten und zwischen den Gesprächen und den Verkehrsmeldungen – schließlich hatte die Sendung ihren Titel nicht von ungefähr – spielten die damaligen Schlager, Udo Jürgens quälte sich ein „Merci, Chérie“ ab, etc. etc. Auf diese Weise hörte ich mich in den Wiener Dialekt ein, den ich immer amüsant fand und den halbwegs korrekt zu sprechen ich mir gelegentlich ein parodistisches Vergnügen machte und mache. Echte Wiener allerdings mögen es nicht, wenn man sie als Deutscher so anspricht; Herbert K. gegenüber, mit dem ich mich zu Beginn der Siebziger anfreundete, trat ich nie so auf. Aber dieses durch diese Radiosendung mir vertraute Idiom erleichterte mir, ebenfalls nach 1970, das (laute) Lesen der Mundartgedichte von H.C.Artman, „Med oaner schwoazn Dintn“, und anderer Autoren, Jandl in späterer Zeit.
Doch sonntags gab’s im Radio noch eine andere Sendung, die – vor allem mir, meine Mutter konnte nicht sehr viel mir ihr anfangen und ging dann – gefiel und sich an die österreichische günstig anschloß: die „Schwäbische Stunde“. Diese Dreiviertelstunde (oder dauerte sie tatsächlich eine ganze?) bot fast immer ein humoristisches Hörspiel „auf schwäbisch“. Ich habe noch heute Augenblicke, in denen ich mich, zugegeben auf halbironische Weise, an schwäbischer Mundart ergötzen kann; ich spreche ein perfektes Schwäbisch. War diese Radioerheiterung vorbei, war es an der Zeit, sich so allmählich ins Kino aufzumachen, wenn ich ins Kino gehen wollte, und ich ging in jener Zeit nicht oft, aber häufig – worin doch ein kleiner Unterschied zu sehen sein sollte – am Sonntag nachmittags ins Kino; in den folgenden Jahren eher abends, oder samstags. Im Spätwinter 1966, mit fünfzehn Jahren, dürfte ich in jeden halbwegs interessant erscheinenden Film, der „ab 16 Jahren freigegeben“ war, gegangen sein, die Altersvorgabe hielt man ja immer für irrelevant, für ärgerlich, und weil ich ziemlich groß war, kam ich fast immer ohne Fisimatenten des Kinopersonals hinein. (Eine Ausnahme blieb mir besonders in der Erinnerung. An einem regnerischen Abend, keinem Sonntagabend, einem Abend während der Woche, wollte ich mir den Schwarzweiß-Western „Ritt zum Oxbow“ ansehen, einen Klassiker des Genres – das wußte ich später. Die „Urania“-Kassiererin fragte mich überraschenderweise, wie alt ich sei, und ich mußte - ich war dazu erzogen worden, nicht zu lügen, nie, und hielt mich daran, gebrauchte, wenn es brenzlig wurde, höchstens eine Antwort, deren Vagheit und großzügige Auslegung des Gegenstands ich mir als Nicht-Lüge interpretieren konnte – ausnahmsweise unsicher gewirkt haben, als ich mich mit eben solch einer Umschreibung aus der Affäre ziehen wollte, und das brachte mich an jenem Abend um diesen Film. Man wollte mir partout keine Karte verkaufen, denn ich konnte mein Alter nicht belegen, z.B. mit einem Schülerausweis. Stocksauer stand ich eine Weile unschlüssig im Foyer herum – hätte ich damals gewußt, wie oft in viel späterer Zeit ich in diesem Foyer noch herumstehen sollte, ich wäre verschwunden ...! – und stieg dann mit Haß im Kopf auf’s Fahrrad. So eine Schmach war mir seit langem nicht widerfahren! In den Siebzigern sah ich den Film dann irgendwann, in meiner Eigenschaft als „Cineast“, und dachte an jenen Abend mit einem Lächeln.)
Meine Mutter war, wenn ich dann heim kam, manchmal nicht da. Sonntag Abend besuchte sie, auch, um die Verwandtschaft und Bekanntschaft zu treffen, die „Stunde“, eine religiöse Andacht des Blauen Kreuzes. Nun ist diese christliche Organisation ja zur seelischen Stärkung alkoholkranker und -gefährdeter Menschen, die von einer geistigen Stärkung hochprozentiger Art nicht lassen mögen, geschaffen worden, und ich fand es in den Jahren, als ich zweiundvierzigprozentige Erbauung zu mir nahm, gelegentlich, wenn mich der Gedanke streifte (er tat es selten), eine ironische Wendung des selbst bereiteten Schicksals, daß auch ich in Kindertagen nicht selten an dieser Andacht teilgenommen hatte, freilich nicht aus eigenem Wollen oder einer eventuell schon akuten Notwendigkeit (heutzutage saufen ja schon Zwölfjährige), sondern als braver Sohn, der halt mitging, wenn die Mutter das wünschte. Übrigens trank meine Mutter keinen Alkohol, alle Jubeljahre höchstens nippte sie mal am Sekt, sie brauchte dafür hin und wieder ihre Tabletten, und das steigerte sich. Was für salbungsvolle Reden vom „Klauben“ mußte ich mir anhören, inmitten einer ältlichen, sektiererhaften Eiferergemeinschaft, und das Harmonium jaulte religiöse Weisen dazwischen! Als ich dann in einem Alter war, in dem man schon einmal eigene Absichten äußern darf, stellte ich das Mitgehen abrupt ein, eben zu der Zeit, in der es mir nicht unbedingt à la mode erschien, sich an den engen Kirchenbänken die Knie anzuschlagen. Es kann schon sein, daß diese unangenehmen „Stunden“ in gedrückter Stimmung beim Blauen Kreuz – die Namen der diversen „Evangelisten“ (Werner Heukelbach!, bei dessen Erwähnung ich das „heucheln“ herauszuhören glaubte) wurden in den Unterhaltungen dieser Kläubigen wie die entrückter Heiliger erwähnt – dazu beitrugen, ein klein wenig, bedenkt man alle Hintergründe, die sich in einer solchen Szenerie verstecken, daß ich in späteren Dekaden, als es mehr als nur zweimal ein Kreuz war, in Biberach leben zu müssen, gerne blau war.
Der Sonntagabend wurde mit Lektüre beendet. Ein gebrauchtes Schwarz-Weiß-Fernsehgerät kaufte meine Mutter erst 1971 oder 1972. Ich hatte es davor nie vermißt, danach selten hineingeguckt und in den Neunzigern „entsorgt“. Ich glotz nicht TV.
- Vormittags grau. Für einige Zeit dann der Versuch des Sonnenlichts, länger bleiben zu können, dann wieder Verdüsterung. Während des Nachmittags immer wieder Gleißlicht zwischen den hellgrauen Wolken. Abends Regen.
10.2.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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