5
Feb

5.2.2002

Zu jener Zeit, in der diese Geschichte entstand, warf ich gern, sofern ich seiner ansichtig wurde, einen Blick, allerdings einen verstohlenen, auf einen vielleicht um ein Jahr jüngeren Schüler, der in einer Klasse unter meiner, also in einer der Fünfer-Klassen, sein und also fünfzehn oder vielleicht auch vierzehn Jahre alt sein mußte. Die Schülerzahl der Realschule war so beträchtlich geworden, daß man schon längst nicht mehr auch nur eine gewisse Anzahl von Schülern außerhalb der eigenen Klasse kannte; nicht einmal die der Parallelklassen, wenngleich die eine oder der andere doch nicht ganz unbekannte Gesichter hatten. Dieser Junge, auf den meine heimlichen Blicke fielen, war mittelgroß und trug sehr lange dunkle Haare, die bis über die Schultern fielen; in jener Zeit in anderen Gegenden kein ganz ungewöhnlicher Kopfschmuck mehr, aber für Biberacher Realschulverhältnisse noch ziemlich nichtalltäglich. Ich hockte noch mit meinem üblichen Fassonschnitt auf dem Schulstuhl, was mir auch gar nicht so wichtig war. Diesen hübschen Langhaarigen streifte mein scheinbar gelangweilter Blick, wenn er in einer anderen Ecke des Schulhofes, der von der Wielandstraße begrenzt wurde, stand und sich mit Mitschülern unterhielt, oder wenn die große Pause mit dem Zurückschlendern zu den Unterrichtsräumen endete, wobei ich darauf achtete, daß der aus der eigenen Klasse, mit dem ich redend durch die Gänge ging, nichts von meiner tatsächlichen Aufmerksamkeit für jenen, der immer wieder zwischen den Schülerpulks unsichtbar wurde, mitbekam. Nie sprach ich den Langhaarigen an. Ich wagte es nicht, eine als unverfänglich glaubhafte Situation herzustellen, die es mir – und ihm – erlaubt hätte, ein paar Worte zu wechseln, und bei einer solch delikaten Angelegenheit war, und so ist es noch immer, nicht nur die beobachtende und mißtrauische Umgebung zu berücksichtigen, sondern eben auch eine eventuell ungnädige Reaktion des Objekts der Begierde. Dieser gutaussehende langhaarige Junge war der erste, bei dessen Erscheinen ich mir sagte, und zwar ohne jede Selbstvorwürfe oder auch nur eine Spur von Erstaunen über mich selbst, daß er mir gefiel. Aber diese Bewunderung aus der Ferne kündete auch schon ein Verhalten späterer Jahre an, das die Ausmaße eines echten Leidens annahm.
- Heute wieder bedeckter Himmel, zur rushhour fielen die ersten Regentropfen.
5.2.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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