11
Jan

11.1.2002

Und als könnte man diesem Blick ausweichen, blickt man selbst zurück, hinter sich, denn da muß doch noch einer stehen, auf den dieser Blick der anderen, oder der Welt, wiewohl solch ein „Blick der Welt“ reichlich abstrakt sein müßte, weshalb wir diesen Blick gleich wieder vergessen, abgeleitet werden kann, so hofft man in solcher Sekunde, und tatsächlich: da steht jemand, oder ein Etwas, das oder der eine unklare Ähnlichkeit mit einem selber hat, mit dem Selbst, das zu sein man sich vorzustellen nicht ganz aufgegeben hat, dem Ich. Die dünnen durchsichtigen Schichten der Zeit geben diesem hinter einem stehenden – oder liegenden, wie die eigenartigerweise geläufigere Floskel heißt – Ich oder Selbst diese ein wenig gebrochene, verschwimmende Kontur, denn wie noch das dünnste Glas das Licht des Jetzt bricht, wenn auch nur um einen winzigen Winkelgrad, wenn es durch es durchfällt und das Dahinterliegende – sieht das beobachtende Augen gleichzeitig durch dieses Glas, fliegt der Blick also im Licht mit – dadurch um diese Winzigkeit verrückt wird, so brechen die Schichten der Zeit die Erinnerung.
Vorgestern hatte ich einen Gedanken, den ich über dem Schreiben vergaß, und vorhin hat er sich wieder gezeigt und jetzt will er aufgeschrieben werden, denn wenn er wieder unberücksichtigt bleibt, obwohl er sich bequemt hat, noch einmal zu kommen, zieht er sich womöglich für immer zurück. Nun – wenn man, sagen wir, fünfzig Jahre erlebt hat, ein fünfzigjähriges Leben schon sich sozusagen erworben hat, und aus diesem halben eigenen Jahrhundert das zusammentragen würde, was einem wichtig war und das einem zum jeweiligen Standpunkt in der eigenen Zeit das Gefühl gab, gern und deutlich am Leben zu sein, also die Intensität des Lebensgefühls betrifft, dann kann es gut sein, daß man Mühe hätte, ein einziges, sagen wir: das einundfünfzigste, Jahr, damit so zu füllen, daß nicht noch einige Tage oder gar Wochen an „Zeitraum“ übrig blieben.
- Über Mittag verlieh das Licht des Fixsterns, Sonne genannt, das in den oberen Höhen zu ahnen war, der Wolkenschicht über der Stadt einen silbrigen Schimmer. Kälter.
11.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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