6
Jan

6.1.2002

Auch bei uns blieb der „Baum“ bis zum Dreikönigstag im Wohnzimmer stehen, denn die Weihnachtszeit dauert nun einmal trotz Sylvester – aber natürlich war der auch ein Heiliger gewesen, sofern ein bestimmter Ritus darüber eine verbindliche Aussage machen kann – und Neujahr bis Epiphanias, und an diesem Tag erschien mir zuverlässig jeden Januar die Gewißheit, daß die Weihnachtsferien zu Ende waren. Am Nachmittag des 24. Dezembers hatte ich den „Baum“ Jahr für Jahr mit den immer wieder verwendeten Kugeln und Strohsternen behängt – auf Weihnachten abgestimmtes Rock- und Popsonggedudel aus dem Radio der „Musiktruhe“ – und mit dem aus dem Karton, der bis zum jeweils nächsten Weihnachten auf dem Dachboden ausharrte, entnommenen Silber- und Goldlametta, dem nur hin und wieder eine frische Packung hinzugefügt wurde, geschmückt, natürlich auch die metallenen blütenblätterförmigen Kerzenhalter an den Zweigen befestigt, auf denen dann am Abend des Hl. Abends die weißen schlanken Stangen, die ihren Zweig etwas nach unten drückten, von den Flämmchen malträtiert niederschmolzen. Zum Abschluß der Behängung hatte ich an die Spitze der kleinen Tanne oder Fichte einen besonders großen Stern geklemmt. An Sylvester, neue, ganze Kerzen waren eingesetzt worden, hatten dann zusätzlich schwefelhaltige „Wunderkerzen“ die Zweige nach unten gezogen. Auch dieser „Baum“ hatte bis zum Dreiköngstag stark zu nadeln begonnen, die grüngrauen Nadeln lagen auf dem Teppich, auf den Überresten der Geschenke, den leeren Kartons oder sogar wieder hingelegten Büchern oder Pralinenschachteln (auch sie so gut wie leer) und rieselten davon, wenn einer dieser Gegenstände in die Hand genommen wurde; auch nur durch die kleine Erschütterung des Fußbodens beim Gehen. Am Nach-mittag nach dem Erscheinungstag entkleidete ich die Tannen- beziehungsweise Fichtenruine ihres fad und fadenscheinig gewordenen Behangs, die letzten Kerzenstummel zog ich aus ihren auf den halbnackten Zweigen schwankenden Haltern, warf sie in eine Tüte, die zum Müll kam, alles lag, bis zur nächsten Zweiwochensaison, im Karton, den trug ich hinauf unter‘s Dach. Der Staubsauger, ein graues kleines Monster der sechziger Jahre mit einem langen Rüssel, ruckte und zuckte hinter mir her, wanderte mit mir durch’s Wohnzimmer, vertilgte die verbliebenen Spuren der Festtage. Zuvor hatte ich den „Baum“ natürlich aus der Wohnung in eine Gartenecke getragen, was, nach dem Staubsaugereinsatz, das Abfegen der Treppe erforderlich machte, und im Durchgangsflur der unteren Mieter hantierte ich dann mit Schaufel und „Kehrwisch“. Die Süßigkeiten waren aufgefressen, die neuen Bücher gelesen, das Jahr durfte beginnen.
- Ein halbheller, metallgrauer Tag mit Regen, die Außentemperatur ist gestiegen.
6.1.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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