12
Okt

Erste OP 2000-1

Erste-OP-2000-1

11
Okt

11.10.2002

Als ich vor Monaten schrieb, ich sei Stanislaw Lem auf der Buchmesse im Jahr 1975 begegnet, irrte ich mich. Es war im Jahr zuvor. Und auch die Zusammenhänge, die ich daraus entwickelte, erweisen sich heute als unzutreffend. Die Muse der Erinnerung ist oft abwesend.
- Wieder ein Sonnentag, wieder kalt. In der Abenddämmerung zartrosa Wolkentupfer am Westhimmel.
11.10.2002

10
Okt

Krankheit 03

K-3

9
Okt

Krankheit 01

Krankheit-01

Die Krankheitsbilder werden auf expliziten Wunsch von KD publiziert.

8
Okt

8.10.2002

Frau H. empfing mich herzlich wie immer und bei Kaffee und Zopfbrot mit Butter saßen wir in ihrem Wohnzimmer, in dem, sie machte mich beiläufig darauf aufmerksam, eine neue Sofa- und Sessel-Garnitur stand – man sagt doch „Garnitur“? – , wegen des besseren aufrechteren Sitzens, wegen „des Kreuzes“. Wir redeten über die sechziger Jahre, über meine Mutter und ihre manchmal uneindeutigen Verhaltensweisen, aus denen sie noch etwas wie „Glück“ zu ziehen versuchte, über meine Ablehnung verschiedener Personen, die bei uns mit einiger Regelmäßigkeit zu Gast bei den Festivitäten oder auch an gewöhnlichen Tagen waren. „Als du dreizehn warscht, hat dich deine Mutter oft recht streng behandelt“, sagte Frau H. im schwäbischen Dialekt einer bestimmten Gegend hinter Biberach nach Riedlingen zu (eines der dort zwischen den Feldern ruhenden Dörfer war ihr Heimatort), „und ich hab zu ihr gesagt, wenn du dich noch lang so zum Klaus benimmst, dann kann es gut sein, daß er noch zu seinem Vater zieht.“ Ich hatte keine Ahnung mehr davon. „Das würde er mir nie antun!“, habe meine Mutter, sagte Frau H., ausgerufen, „und ich hab ihr gesagt, du weißt vielleicht nicht, was Kinder so tun können.“ Natürlich wäre ich nie in den Hagenbucher Weg gezogen. Diese Spanne Zeit, die nicht lange gewährt haben dürfte, habe ich erfolgreich verdrängt und wahrscheinlich maß ich solchen Anwandlungen meiner Mutter auch nicht sehr große Bedeutung zu; war ich nur wieder sehr rücksichtsvoll gewesen; oder auch nur gleichgültig? Oder hatte ich dieses Verhalten gar nicht bemerkt? Nicht ernst genommen, vermutlich. Frau H. erzählte von den Verhältnissen, in denen ihre – mir gleichaltrigen – Kinder und deren Kinder leben. Eine ganz andere Art und Weise, das Leben zu bewältigen und zu führen erst einmal tat sich mir immer auf, wenn sie von diesen Sorgen und Nöten berichtete. Nicht, daß sie mir ganz fremd gewesen wären oder seien, doch erkannte ich an diesen Lebensentwürfen und -gestaltungen, wie ruhig und fast privilegiert ich die Monate und Jahre nach meinem Abschied von den Filmtheaterbetrieben K., in Biberach zunächst noch, dann in Berlin, zubrachte, wenn ich, was mir zuweilen gelingt, von den kleinen Krebstumoren – hoffentlich wieder kleiner als im August! – absehe; – und der Krebs verschafft mir seit zweieinhalb Jahren diesen relaxten, hin und wieder von den Nebenwirkungen der Chemotherapie gestörten Lebensstil, sonst hätte ich unter Umständen, an die ich gar nicht denken mag, gewisse Schwierigkeiten, mir die Zumutungen bestimmter Ämter vom Leib und vom Bewußtsein zu halten; und trüge ich keine ausgeflippten Zellen – ich habe manche Überlegung angestellt, warum sie sich so krank verhalten – mit mir herum, hätte ich, gut genug kenne ich mich, diese Aufzeichnungen nie begonnen. – Nach einer Stunde verließ ich Frau H. und ihre Wohnung, in der ich mich als Kind und Jugendlicher der sechziger Jahre viele Stunden aufgehalten hatte (sogar für einige Tage übernachtet hatte, als meine Mutter auf Reisen gewesen war und mir nicht zugetraut hatte, allein in unserer Wohnung zurechtzukommen, als ich eben schon dreizehn Jahre alt gewesen war; wenn sie sich dann manchmal in späterer Zeit für ein paar Wochen Abwesenheiten vom Alltag genommen hatte, wozu auch die Zeit vor und nach der Operation, die sie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre über sich ergehen lassen mußte, gehörte, war das anders geworden), spazierte über den Gigelberg und die Schillerhöhe zum Stadtkern hinab. Ich drückte mich für einige halbe Stunden im „Weichardt“ an der Wielandstraße herum und erinnerte im sinkenden Nachmittag verschattete Szenen, wie Freunde und ich in den frühen siebziger Jahren hier Becks Bier zu uns genommen hatten; die Einrichtung des Cafés war damals gar nicht so sehr verschieden von der gegenwärtigen gewesen; ich sinnierte zum Fenster hinaus. Dann war ich mit dem Kunstmaler Heilig in der neuen Wohnung mit Atelier in der Nähe des „Insel“-Buchgeschäfts verabredet. In drei Stunden sprachen wir über die Aktionen während und nach der APO-Zeit in Biberach und über seine Kunstauffassungen, über den unvollständigen und in manchen Aspekten auch, soweit sie H. berühren, falsche Auskünfte vermittelnden, erst kürzlich erschienenen Katalog zur Kunst in der Stadt, die in ausgewählten Exponaten nicht nur lokal relevanter Künstler im Braith-Mali-Museum hängt. Im letzten Jahr hatte ich einen Artikel über die E.L.Kirchner-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie für das heimische Blatt geliefert, den ich aber nicht zitiere, weil man ihn mir – man müsse ja keinen kunsthistorischen Abriß schreiben, hatte der Redakteur D. mir im Telefonhörer gesagt – zusammengestrichen hatte; in der Stadt an der Riß lebt der letzte Verwandte des Expressionisten. Nach dem anregenden Gespräch hockte ich wieder im oben erwähnten Lokal, dessen Stühle und Sitzreihen, die meisten schon unbewohnt, auf Mitternacht und das allmähliche Verschwinden der späten Sitzer warteten, mit Ralph H. zusammen. Er gab eine lustige Geschichte zum besten, in der auch eine ansässige Firma eine nicht sehr erfolgreiche Rolle spielte; ein gerissener, leider windiger Amerikaner hatte über ein Jahrzehnt hinweg mit einem nie klinisch erprobten Mittelchen zur Krebsbekämpfung und dessen unermüdlicher Propagierung diversen Großfirmen diverse Milliönchen aus den Etats gezogen und war, als die Aktien sanken, mit ihnen untergegangen.
- Uneinheitliches Wetter, meistens unfreundlich.
8.10.2002

7
Okt

7.10.2002

29.9. – Nach einem Telefonat am Sonntagvormittag mit Schmidt stand ich im fast noch wärmenden Sonnenschein vor dem Haus der Dres. – sie befanden sich für zwei Tage tagsüber auf einer Fortbildungsveranstaltung – und sah hinauf in das von Wolken freie Blau der Atmosphäre, in der von Norden und von Süden langsam in großer Höhe heran fliegende Jets ihre Kondensstreifen hinter sich herzogen und unter der Sonne, die wirklich gewärmt hätte, wäre der kalte Wind nicht durch den Tag gereist, zu anderen Ländern zogen. Einen der Jets, der – um wieviel hundert Meter? – niedriger flog als die anderen, erkannte ich in seiner Form sehr deutlich: ein vielleicht fünf Zentimeter kleines, silbern glänzendes Ding, das selbst als Spielzeug zu klein erschien. Schmidt fuhr heran, ich stieg ein ins Auto, wir fuhren in die Stadt. In der Stadt ging er vom Auto, für das er in der Weberberggasse wieder einmal einen Parkplatz gefunden hatte, zunächst in die Wohnung, ich zum Café „Vienna“. Der Marktplatz, das lang gezogene Oval, lag leer und weit, hell ausgeleuchtet vom Licht des gelben Sterns, menschenleer fast, nur an seinem Rand, vor einer Apotheke, die jedoch vermutlich keinen Sonntagsdienst anbot, stand eine palavernde Gruppe von Bürgern Biberachs, Angehörige eines südosteuropäischen Volkes, Türken genannt. Eine eigentümliche Empfindung ergriff Besitz von meinem Bewußtsein, wenn auch nicht vom ganzen: so leer und weit (und ländlich), wie dieser Marktplatz – eine falsche Piazza, denn seine der Kirche zugewandte Hälfte war vor einem Jahr oder zweien mit hellen Steinen gepflastert worden, etliche Stühle standen verloren auf ihr wie ein Bühnenarrangement aus Becketts Stücken herum, auf die sich zu späterer Stunde Leute setzen würden, en attendent Godot oder sonstwen – in diesem Sonntagmittag vor mir lag, so weit und doch leer schien sich meine Vergangenheit, die ich in dieser Stadt doch hatte, in mir zu erstrecken, und ein kleines Staunen kam zu dieser Empfindung hinzu; es betraf den Vorgang des kaum merklichen Abrückens der Stadt von mir. „I’m a stranger here myself“, hätte ich einem der Türken sagen können. Hätte er mich verstanden? Ich stand auf dem Platz und sah das quirlige Treiben auf ihm vor fünfundzwanzig und dreißig Jahren vor mir, den Autoverkehr aus den und in die Seitenstraßen, die auf dem Platz mündeten und von ihm wegstrebten, das Durcheinander der hastenden oder gemächlich voranschreitenden Bewohner jener Zeit, die bunte jugendliche, langhaarige, hippieverdächtige Schar der „Marktbrunnenhocker“, die auf dem breiten Steinrand des Brunnens mit dem Ritter in seiner Mitte lagerten und um ihn herum (auch Klaus Leupolz, gelb und rot gewandet, zählte trotz seiner vierzig Jahre dazu); nun war dies Herz der Stadt verödet, und ich wußte von meinen Spaziergängen am Tag vorher und von denen im Sommer, daß sich der Ort auch in Wochentagen weniger belebt als früher zeigt. Etwas von dieser Verödung schlich sich auch in mein Herz ein. M. kam ins „Vienna“, um mir Gesellschaft zu leisten, wir saßen herum, viel zu bereden gab es ja nicht. Ich dachte, zum Essen gehen zu sollen in eine der Gastwirtschaften, doch in welche? Stattdessen kaufte ich auf dem Weg zu Manfreds Wohnung in einem Bäckereigeschäft, das Sonntags geöffnet hat, zwei Laugenbrezeln und ein süßes Stückchen. Ich knabberte an einer der Brezeln. Nur die Biberacher Laugenbrezeln haben jenen Geschmack, der einzig allein mir behagt, auch die richtige Konsistenz; anderenorts, auch in Berlin, werden Laugenbrezeln verkauft, aber sie schmecken nicht so gut wie die in Biberach hergestellten, und das hat mit Lokalpatriotismus nichts zu tun, aber mit der Konditionierung der Geschmacksknospen der Zunge seit den Kindertagen. „Wir fahren noch einmal zum Arndt“, sagte Schmidt vor dem Haus, in dem er wohnt, er ging hinein, holte seinen Fotokoffer. Wir fuhren die Strecke nach Schemmerhofen, einmal mehr zu Arndts, wo M. fotografierte, während ich hin und her ein paar Schritte ging, außer dem Hausherren war niemand auf dem Platz, er stellte Bilder auf den blauen Metallträger (denn als solcher setzte sich das Teil auf der Retina fest, obwohl ich nicht sicher bin, daß es ein Träger für irgendetwas war, es war nur lang und blau und bestimmt sehr schwer), die der nächtliche oder frühmorgendliche Wind herabgeblasen hatte. Ich wechselte Worte mit A. und M. – sie kannten sich ebenso lange wie ich beide kannte – und bat M., von diesen und jenen Bildern Aufnahmen anzufertigen, womöglich könne ich die einmal für eine zu bastelnde Website brauchen. Schmidt ließ sich nie gern sagen, was er zu fotografieren habe und äußerte sich wieder dementsprechend sarkastisch, lichtete aber die Bilder ab. Allmählich traten Neugierige auf den Hof, Autos fuhren heran, aus denen Leute stiegen. Schmidt und ich verabschiedeten uns. Schmidt fuhr übers Land, durch einen lichtüberströmten Tag, der die oberschwäbischen Felder, Wälder, Dörfer der Umgegend von Biberach in spätsommerlich-frühherbstliche Farben setzte, in diese Variationen von Gelb, Hell- und Dunkelbraun und dunkles Grün, die in sanft gewellter Landschaft ausgebreitet liegen und die Große Kreisstadt umschließen. Ich ließ mir die Fahrt gern gefallen, die zum Gutershofer Weiher in der Richtung nach Westen ging, wo Schmidt mich in der Natur, träumerisch meinen Blick, althergebrachte Pose, über die der Verlandung sich nähernden Ufer gleiten lassend, fotografieren wollte. „Nun ja, ein Dokument mehr für die Zukünftigen“, dachte ich. Und so, eine Hand an den Baum gelehnt, stand ich dann im schwarzen Mantel auch am Weiher, über den die Sonne blitzende Funken streute. Schon einmal war ich hier gewesen, an einer anderen Stelle, in den Siebzigern, als Bekannte aus der „Szene“ am Ufer für einen Nachmittag und Abend kampiert hatten, nackt oder halb nackt, vor den Ufergestrüppen und den Binsenkolben, die aus dem Schilf geragt hatten; aber mir hatte diese Naturseeligkeit nicht gefallen, das verspätete Hippiegetue war nicht nach meinem Geschmack gewesen, außerdem hatten mir die großen Schnaken, „Bremsen“ genannt, die auf die Häute niedergesunken waren und Blut gesaugt hatten, erheblich mißfallen und ich hatte jemanden gebeten, mich zurück in die Stadt mitzunehmen. Daran dachte ich, als Schmidt seinen Fotokoffer in den Kofferraum legte und es nach Biberach ging. Vor der Kreuzung der Gaisentalstraße mit dem Krummen beziehungsweise Grünen Weg stieg ich aus. „Wir werden uns wohl dieses Jahr noch einmal sehen“, sagte ich, denn Schmidt beabsichtigte, im Herbst Berlin zu besuchen, und ging hinüber, während Schmidts Auto die Gaisentalstraße hinunterrollte, zur Wohnung von Frau H., die mich 1952 aus dem Schnee im Garten des Lindelestraßenhauses aufgenommen hatte.
Grau und Regen rieselte gelegentlich herab.
7.10.2002

6
Okt

6.10.2002

Am Abend stand ich unter einem Zeltdach eines jener Zelte, dem die Wände fehlen, und las meinen kleinen Vortrag zur Ausstellung, auf vier, fünf Seiten geschrieben, vor; durch die naßkalte Dunkelheit flackerten die Feuer in den offenen, an antike Obelisken erinnernden stählernen Gartenöfen, Funken sprühten, Leute standen vor dem Zelt, ich las meinen Text, einige Gedanken zum Wesen und zur Geschichte des Kults; als solchem. Keines bestimmten. Mich fror, Erkältungskrankheiten kann ich mir nicht leisten, also bat ich Beate, Arndts Frau, um einen Tee im Wohnhaus. Dort saß ich eine Viertelstunde später im Mantel, wie ich es oft halte, schlürfte heißen Tee und Mareen, die hübsche Tochter, und ein junger Mann, von dem ich annahm, daß er ihr Freund sei, saßen dazu. Auch die Tochter ist künstlerisch talentiert. Ich fragte nach dem Sohn, den ich noch nie gesehen hatte. Beate meinte, er verhalte sich prinzipiell ungesellig, und auch sein Outfit sei nicht ganz alltäglich, und wenn man ihn bitte, herunterzukommen, zeige er sich erst recht nicht. Ich vergaß das im Reden, als plötzlich eine Maske in das Wohnzimmer der A.s hereinspähte, dann stand das Geisterwesen, ein Untoter, ein Goth oder Gost, weiß geschminkt in schwarzen Klamotten vor mir: Manuel, der Sohn, ein Anhänger, ganz offensichtlich, der Schwarzen Szene. Ich war amüsiert, ich unterhielt mich mit ihm, lobte ihn für’s ungewöhnliche Auftreten. Bestimmt etwas scheu, versteckte er sich hinter der weißen Schminke. Bald zog er sich wieder zurück. Vor wenigen Minuten hatte ich vom Kult gesprochen, schon erschien mir ein Kultjüngling. Kult ist im Hause Arndt fast Pflicht, möchte man annehmen, steht man vor den mannshohen Skulpturen, die Arndt aus alten Balken und Wurzelwerk produziert, die sofort an Totempfähle, an Geister und Gespenster, an Aliens und andere Welten denken lassen, und an oberschwäbische Gebräuche alter Zeiten. Auch ich ließ mich frühzeitig zum Haus der Doctores nach Warthausen fahren.
28.9. – Manfred S. holt mich an der Bushaltestelle unten an der Straße, an der das neue Rathaus, ein kleiner Bau im üblichen nichtsausdrückenden Neubaustil der Neunziger steht, und auf der man hinauf zur Heggelinstraße kommt, ab; hinter dem verkehrsberuhigenden Rondell, das auf die andere Straße nach Schemmerhofen und die zur am Rand der Schwäbischen Alb liegenden Stadt Ehingen gepflanzt wurde; zunächst stehe ich aber ein bißchen im frischen, doch sonnigen Vormittag herum, warte, über den ununterbrochenen Verkehr von links und rechts, von oben nach unten bin ich erstaunt. Ich sehe Manfreds kleines weißes Auto, er fährt den Bogen um den Straßenkreisel und auf der Straße nach Ehingen weiter. Er hat mich, der ich neben der Bushaltestelle stehe, nicht gesehen. Wo will er hin? (Vor einer halben Stunde habe ich ihn mit dem Handy angerufen, weil ich keine Lust gehabt habe, noch länger auf den Bus zu warten.) Ich warte jetzt also darauf, daß er einsieht, daß ich so weit entfernt von der alten Malzfabrik, in deren Nähe ich stehe, wie ich ihm mitgeteilt habe, nur eben ihr gegenüber, nicht stehen kann; und es dauert auch nicht lange, bis sein Auto wieder, jetzt von links, sich dem Rondell nähert. Manfred kehrt, wie ich beobachte, auf einem Parkplatz dort vorn an der Straße, die neben dem ehemaligen „Wurzelmax“-Gebäude und am Bahnhof vorbei auf die B 12 zuführt, um, fährt zurück, und ich bin schon ihm entgegengegangen und winke ihm mit einer kurzen Arm- und Handbewegung, und endlich nimmt der Freund mich wahr und fährt an den Straßenrand, außerhalb des Kreisels, heran, hält. „Wo willst du hin?“, frage ich. „Du Sack, warum stehst du nicht da, wo du stehen solltest?“, gibt er zurück. Ich steige ein und lasse das auf sich beruhen. Wir fahren zu Arndt. M. besichtigt die Ausstellung, kühler Wind bläst durch den schönen Tag, wir lassen uns zu einem Kaffee im Wohnzimmer einladen. Noch in der Küche stehend bemerke ich an der Wand etliche kleinformatige Bilder, lobe eines, das in gelungener quasiimpressionistischer Manier, mit abstraktem Motiv aber, gemalt wurde, und Beate sagt, dieses Bild sei eines von Manuel aus dessen Kinderjahren. „Söhnchen hat Besuch und frühstückt oben“, fügt sie hinzu und nimmt ein Tablett, auf dem zwei Kaffeetassen, Milch, Zucker, etwas Eßbares, sich befinden, in die Hände. Wir ziehen ins Wohnzimmer, dort wird uns das beliebte Heißgetränk serviert. M. und ich fahren nach einer halben Stunde ab, er chauffiert in Biberach hinauf zum Weingartenberg, fährt über einen Weg hinter den Häusern, hält vor einer Wiese an. Wir schlendern über den angedeuteten Feldweg zur Böschung, zum Steilhang, der von einem Maschendraht abgegrenzt wird, hinter dem Unkraut und Büsche wuchern; den Hang hinab. „Scheiße, man kommt nicht richtig ran“, sagt M., „damals stand der Zaun dicht vor dem Abgrund.“ Mit damals meint er die frühen Achtziger, als er oft mit seinem großen schwarzen Hund Musculus durch die Umgebung der Stadt streifte; jahrelang hatte er keinen Job, wollte keinen haben, lebte von Sozialhilfe. Längst hat er als Industriemeister mehr Geld zur Verfügung als ich. Wir schauen hinunter auf das Kieswerk, das unten in der hellbraun-weißlichen großen Ausbuchtung des Hangs mit seinen Gebäuden, Förderanlagen, Baggern etwas spielzeughaft aussieht. Und hinüber zur anderen Seite des Tals; „dort oben das Hölzle, am Fernsehmast“, sagt M., doch ich bestreite den Standort und meine, das Hölzle, in dem ich als Zwölf- und Dreizehnjähriger einen Teil der Sommerferien tagsüber verbracht hatte, wie viele Kinder und jüngere Jugendliche in den Sechzigern, und noch in den Sommern der gegenwärtigen Jahre bietet diese baumumstandene Bucht oben an jenem Hang eine preiswerte Sommerfrische, sei rechts daneben, eben an der erhöhten bewaldeten kleinen Kuppe zu erkennen. Das sei falsch, behauptet M., schließlich habe er auch dort oben, in Bergerhausen, gewohnt, für einige Zeit. Bergerhausen ist ein Dorf östlich auf der Anhöhe und gehört zur Stadt B.a.d.R.; früher, als ich jeden Morgen in einem Bus gestanden hatte, der Kinder vom Stadtteil Weißes Bild/Gaisental aufgesammelt und hinauf zum Hölzle gefahren und sie abends in ihre Straßen zurückgebracht hatte, (immer war er rappelvoll mit lärmendem Jungvolk gewesen), hatte dieser Ort noch eine eigene Verwaltung gehabt. Das Hölzle ...
... ist eine von Kiefern, Fichten, Lärchen, Tannen, Laubbäumen umkränzte Mulde, und in ihr breiten ebenfalls Baumkronen ihre schattenwerfenden Schirme aus; ein Ort, in dem Kinder für einen moderaten Betrag, den die Eltern zahlen, Spiel, Spaß, Spannung hatten und vermutlich haben. Auf Schnitzeljagden, die einen ganzen Tag währten, durchkämmten wir die Wälder, deren Säume überall standen; schlichen im Hölzle in geheimnisvollen Räuber- und Gendarmspielen durchs Unterholz; vergnügten uns am Eishockeyspiel, das in einem Holzkasten stattfand, in dem die Blechfiguren den schwarzen Puck hin- und herstießen, -schoben, -schleuderten – das war ein Gedribbel, Gefummel und Zielen und Stoßen an den dünnen Metallstangen, mit denen die Blechkameraden bewegt wurden! Dies war auch die einzige sportliche Betätigung, natürlich, die ich dort gern vollbrachte, und ich darf mir schmeicheln, auch darin ein kleiner Meister gewesen zu sein. Tee aus voluminösen Metallbehältern gab’s gegen den Durst, der sich im Hochsommer bald verläßlich bemerkbar machte; die Betreuerinnen füllten die Kübel nach, die von Wespen umschwirrt vor einem Häuschen standen. Am frühen Nachmittag hieß es, die Ruhestunde tunlichst einzuhalten. In einem rechteckigen Zelt waren Reihen von olivgrünen Feldlagerpritschen aufgestellt und auch draußen in der Mulde, zwischen Bäumen und Büschen, lagerten wir, vom Spiel von Sonnenlicht und Schatten umgaukelt. Nach drei Wochen war die gebuchte Zeit abgelaufen, ich blieb den Rest der Ferien zu Hause ...
... M. fährt am Lindelestraßenhaus vorüber und hält für einige Minuten, ich zeige ihm am Original, nicht an einer Fotografie, wo mein Zimmer und das Wohnzimmer gewesen waren. „Die Veranda an der Nordseite stand noch nicht, dort befand sich das Blechdach der Verlängerung der unteren Küche, aus dem Nordfenster unserer Küche machten sie offenkundig eine Tür.“ Wir fahren durch die Gartenstraße zur Birkenharder Straße, an der Nordseite eines der Gebäude der „Brauerei Zum Biber“, in der Weberberggasse, parkt M, nur ein paar Schritt von seiner Wohnung entfernt.
Um 15 Uhr hocke ich hinter einer Tasse Kaffee im „Vienna“ an der großen Kirche und warte auf Matthias D., wir wollen miteinander plaudern. Er war in den Neunzigern einer der Kursteilnehmer in der Literaturwerkstatt, die ich in der Jugendkunstschule ab dem Herbst 1993 am Ort für fünf Jahre betrieb. Er blieb die ganzen fünf Jahre dabei. Nun, als er hereinkommt, ist er ein gut aussehender Achtzehnjähriger mit einer dunkelblonden Rasta-Mähne, er trägt eine schmale Brille im sensiblen Gesicht. Wir mailen uns ab und zu. Auch war er zweimal zu Besuch in Berlin, nächtigte auf der schmalen Iso-Matraze in meiner Ein-Zimmer-Wohnung, beim zweiten Mal, vor einem Jahr, brachte er einen Freund mit, der streckte sich nach dem Stadtbummel auf der Coach aus. Eine Woche lang erkundeten sie Berlin. Er nimmt Platz, bestellt sich ein Getränk. Felix komme auch noch, sagt er. Felix las mit zwölf Jahren T.C. Boyle, das war seine Eintrittskarte in den Jugendlichen-Kurs meiner Literaturwerkstatt. Bis er kommt, reden Matthias und ich über den Deutsch-LK, in der er und Felix sich zur Zeit mit Kafka befassen. Vor wenigen Tagen hat er sich das Taschenbuch mit Materialien zum Werk und zum Leben des Pragers aus der „Insel“-Buchhandlung geholt; ich habe dort vor Tagen angerufen, aus Berlin, und gesagt, M.D. könne auf meine Rechnung dies Büchlein mitnehmen. Felix kommt, wir unterhalten uns übers Lesen und Schreiben. Ich rede von meiner Unlust, die ich gelegentlich habe, wenn ich diesen Text hier täglich schreiben soll und setze hinzu, vielleicht um mich ein wenig aufzuwerten, ein Schriftsteller habe einmal gesagt, oder geschrieben, einem Schriftsteller, der diese Bezeichnung verdiene, falle das Schreiben schwer. Ich rede davon, daß ich fast immer, wenn es ans Schreiben von Deutschaufsätzen ging, der letzte gewesen sei, der mit dem Formulieren begonnen habe. Wir sprechen also zwei Stunden über Literatur, nicht nur von Kafka, auch von Döblin, vom Roman, dessen Figuren um den Alexanderplatz in Berlin herum handeln und Matthias hat ja die Schauplätze des Buches während seiner Aufenthalte in der großen Stadt schon gesehen, ist durch die Straßen gegangen, über die Franz Biberkopf – die Biberacher nennen sich übrigens gern „Biber“ – 1929 schlich. Dann müssen die Jungs gehen, auch ich verlasse das Café, wechsle in ein anderes. Abends besuche ich Thomas G., Ali (Dr. A ...) trifft mit seiner weiblichen Begleitung ein, wir verquatschen den Abend, quasseln über das Biberach in den alten Zeiten (so alt sind wir inzwischen schon ...), womit wir die siebziger und achtziger Jahre meinen, und ich auch über das Berlin von heute. Mit Ali ergibt sich zum Schluß, zu fast mitternächtlicher Stunde, noch ein Dialog über Kosmologie, was ich immer unterhaltsam finde. Auch das ist dann besprochen und Thomas fährt mich nach Warthausen.
- Trüb, regnerisch, herbstlich kühl.
6.10.2002

5
Okt

5.10.2002

27.9. – Der Freitag war ein verregneter Tag. Doch regenfreie Stunden hatte er. Vormittags verließ ich das Haus der Doctores, wartete vor ihm auf das Taxi, das ich vom sehr großen Wohnraum aus, als ich durch eines der Fenster zur Straße hinausgeblickt hatte, vorne an der Straße hatte heranfahren sehen; ich stand vor dem Haus und wartete darauf, daß das Taxi, dessen Fahrer sich offenkundig nicht in Warthausen auskannte, wieder von seiner kleinen Suchfahrt um diese Straße herum zurückkam. Es dauerte auch nicht lange. Ich stieg ein und gab die Adresse der Arndts in Schemmerhofen an. (Ein Dorf nördlich von Warthausen, in dem in der vorletzten Bundestagswahl unverhältnismäßig viele Einwohner braune Kleinparteien gewählt hatten.) Mit Schmidt, Manfred, war ich einige Male vor ein paar Jahren dort gewesen; nun wies ich den Taxifahrer an, schon vor dem Dorf nach rechts in eine Straße einzubiegen, die sich als die falsche herausstellte. In einiger Entfernung sah ich eine Häuserfront, die mir die richtige zu sein schien, „da vorn ist es, fahren Sie weiter“, waren meine Worte an den Fahrer, einen älteren bäuerlichen Typ, der murmelte, dort sei aber nicht die angegebene Straße. Er fuhr weiter, ich dirigierte ihn in eine sich sacht abneigende Straße hinein, die neben dem südlichen Ortsrand entlangführt, vors Arndt`sche Haus ganz unten am Ende der Straße, bezahlte achtzehn Euro – ein stolzes Entgelt für eine gar nicht sehr weite Fahrt, mit Trinkgeld – hievte die Beine in den schwarzen Jeans aus dem Benz und drückte einen Finger auf den Klingelknopf. Arndt öffnete. Wir gingen sogleich hinüber auf den asphaltierten Bauhofplatz, auf den er seine Holzplastiken gestellt hatte. Ölbilder waren auf einem langen blauen Metallgegenstand, der am Rand des Platzes, seine Länge einnehmend, lag, und als eine Art Stellage diente, aufgereiht. An der Nordwand eines großen Schuppens waren die Bilder des anderen Malers in „alter Hängung“, dicht an dicht, nebeneinander, übereinander angebracht. Gebilde, Gerippen ähnlich, schienen aus den hellbraunen holzartigen Flächenstrukturen hervor zu wachsen; der Maler K. nannte diese Bilder „Grabungen“. – Nachmittags fuhr ich mit dem Stadtbus zum Friedhof auf dem Hühnerfeld. Ich suchte das Grab meines Erzeugers, fand es ziemlich schnell. Es war noch da. Wer pflegte es (auf katholische Weise)? Lebte seine Lebensgefährtin noch? Nach einer Weile entnahm ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte, hockte mich nieder, öffnete das Türchen des Lämpchens, stellte das Kärtchen an die heruntergebrannte Kerze, schloß die Lampe wieder. Was sollte das? – Vom Grab meiner Mutter an einer anderen Stelle des Friedhofs schnitt ich die langen Stengel mit den seit dem Sommer nachgewachsenen Farnblättern mit dem Taschenmesser, das ich stets bei mir trage, ab. Im langen schwarzen Mantel beugte ich mich wieder und wieder über das Grab, auf dem kein Stein, kein Holzkreuz steht, nur ein spitzförmiges Nadelgewächs nach letzten Anweisungen meiner Mutter (die Frau H. gekannt hatte), das sich über den größten Bereich der Grabfläche in den vielen Jahren ausbreitete und das ich vor drei Monaten hatte stutzen müssen; schnitt, warf die grünen Stengel auf den grasigen Zwischenweg. So, nur wilder, zorniger, verzweifelt, hatte Lost, der Schriftsteller in Berlin, dieses Grab nach vielen Jahren der Abwesenheit von seiner Geburtsstadt vom vertrockneten Laub und vom gewucherten Kraut befreit. Ich trug die Farnstengel, den lockeren grünen Haufen, zu einem der Kompostbehälter an einem der größeren Wege, die durch den hügelanwärts angelegten Friedhof verliefen, kehrte um, sah auf das Grab, wandte mich ab. Unter dem aufgespannten Regenschirm, denn ein Guß regnete sich aus, schritt ich langsam, mit Tränen in den Augen, zum Ausgang der Sepulkralanlage. Mit dem Stadtbus gelangte ich in die Innenstadt.
- Graues Regenwetter. Nachmittags drang Sonnenlicht herunter, das abgedeckt wurde. Abends und in der Nacht fiel Regen.
5.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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