26
Sep

Brecht

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25
Sep

KARGA 2

karga2

24
Sep

Der Alte Fritz

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23
Sep

Storchen

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22
Sep

22.9.2002

Heute Bundestagswahl. Lange gezögert, ob ich wählen gehen soll. Ging mittags doch, einem schnellen Impuls nachgebend, hinüber in die Rheinsberger Straße, in ein eng wirkenden Backsteingymnasium, das zwischen die Wohnhäuser gezwängt ist, hinein, wählte PDS. Brachte einen Brief zur Poststelle im Bahnhof Friedrichstraße (wie der sich verändert hat!) und fuhr mit der Tram zur Haltestelle, stieg dort aus, ging nach Ablieferung des Briefes, den zugeklappten Schirm in der Rechten, durch Mitte zum Koppenplatz, wo ich mir in einer Konditorei an manchen Sonntagen Tortenstücke hole, die ich – nach einem Gang durch die Ackerstraße und an der Schule vorbei, die an der Elisabethkirchstraße steht (weißer Putz bröckelt an ihr seit Jahren ab) und nach dem fortgesetzten Spaziergang in feuchter Luft, denn es regnete zeitweilig recht heftig, durch die Strelitzer Straße und die Anklamer Straße hinauf in die Brunnenstraße, dort ins erste Haus rechts hineingehend (neben dem ein Brachplatz, der eine verwilderte Müllhalde ist, liegt), durch das Vorderhaus gehend, durch den Fahrradhof ins Hinterhaus („Seitenflügel“ offiziell) eintretend und zu meiner Wohnungstür kommend, die ich aufschloß, nach Ablegen von Trenchcoat (unübliches Kleidungsstück im Osten von Berlin) und Basecap, nachdem ich mir einen starken Kaffee gemacht hatte – genüßlich verzehrte. (Aber gehört das zur „Biberacher Zeit“?) Dann den ganzen Abend Wahl geguckt und über die Biberacher Situation kein Wörtchen auf’s Papier gebracht.
- Regen, kühl, herbstlich.
22.9.2002

21
Sep

21.9.2002

Das Mädchen schlief, wachte in den Reisepausen auf, die auf zwei Rasthöfen zugebracht wurden. Auch ich blieb eher mundfaul. Wir näherten uns Berlin und hörten im Radio von der gescheiterten Bewerbung Berlins um die Austragung der Olympischen Spiele und ich fragte mich, welche nationalistischen Ausschreitungen sich am Abend zu unserer Ankunftszeit abspielen würden. Am U-Bahnhof Alt-Mariendorf hielt das Auto an, mit steif gesessenen Beinen kletterte ich heraus, folgte dem Pseudopunkmädchen in die U-Bahn, mit der wir zum Bahnhof Friedrichstraße fuhren. Wir stiegen aus, sie huschte davon, ich stieg eine Treppe zu einem Ausgang hinauf und stand auf der Friedrichstraße vor dem alten ruinierten Metropol-Theater, dem Admiralspalast besser gesagt (wie das Gebäude genannt wird, erfuhr ich erst viel später). Ich orientierte mich erst einmal, die Straße sah seltsam heruntergekommen aus. Ost-Berlin. Vom „Tränenpalast“ hatte ich gelesen; ich dachte in dieser Minute, er müsse irgendwo im Bahnhof integriert sein; die alte DDR-Abfertigungshalle. Dabei befand ich genau vor ihm. Ich sah ihn nicht. Ich betrat den Bahnhof, dessen muffige Ausdünstung mich anflog und stieg oben in einen alten kastenförmigen S-Bahnwagen ein; der rote Zug rumpelte davon. Im Bahnhof Alexanderplatz verließ ich das Gefährt, das mir ungeheuer berlinerisch vorkam, ging mit dem Köfferchen hinunter. Schmutzig-beige Fliesen überall, es roch ostig. Dieser Geruch war für mich ein ostiger; obwohl ich den Geruch des Ostens noch gar nicht kannte; meine Augen waren die Umgebung nicht gewöhnt und meine Vorinformationen (und -urteile) wurden bedient. Ich irrte nach links, kam auf einen mir riesig erscheinenden Platz – aha, Berlin Alexanderplatz. Er war öde. Die Dämmerung fiel. Ich irrte zurück in die Länge des Bahnhofs, trat auf der anderen Seite hinaus. Wo war der Weg zum „Scheunenviertel“? Den Turm, der auf dieser Seite ragt, sah ich nicht; vielleicht seinen schwach angeleuchteten unteren Teil für eine unaufmerksame Sekunde. Ich sah die Würstchenbude und die jungen Männer mit den Glatzen vor ihr, die wahrscheinlich Bock- oder Currywürste mampften. Ich ging, mit meinen langen Haaren, tapfer draufzu, ohne sie zu beachten und spürte doch, wie sie mich fixierten. Ich ließ mir schnell eine Entgegnung auf einen mögliche Anpöbelung einfallen; nichts geschah. Wie eine „linke Zecke“ sah ich ja wohl aus. In einem Seiteneingang verschwand ich unbehelligt, fand sogar ein Wandtelefon und rief Stefan an, wie ich zur Alten Schönhauser Straße käme. Er beschrieb mir den Weg. Ich marschierte los, fand die Münzstraße, die rechts von ihr verlaufende Alte Schönhauser. Ich sah mich in eine Szenerie aus den zwanziger Jahren versetzt; mit schwarzen Fassaden links und rechts und düster illuminiert lag die Straße in der Abenddunkelheit vor mir; und die Bepflasterung, breite, teils zerbrochene Steinplatten, kleine Pflastersteine, der Sand zwischen ihnen ... – die ganze Unregelmäßigkeit des Gehwegs erforderte ein aufmerksames Gehen, wollte man nicht stolpern. In Biberach waren die Bürgersteige in viel besserem Zustand. Vor einem zurück gesetzten Eingang blieb ich stehen. (Ein Wandtelefon hing da.) Die Hausnummer stimmte. Ich stieß eine alte Tür auf, brachte einen engen Gang hinter mich, ein schachtartiger Hof folgte, in dem allerlei Gerümpel lag und stand, ein Fahrradrest, Mülltonnen; ich öffnete die halb offen stehende zweite Tür zu einem finster sich in den Nachthimmel aufreckenden Gebäude; das sollte bewohnt sein? Ich glaubte mich doch am falschen Ort, kehrte um, ging zurück zum Alexanderplatz, ich irrte mit Köfferchen in einem Gangsterfilm herum (und las ein paar Jahre danach noch einmal Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ und stellte fest, daß in ihm in der Alten Schönhauser der Verbrecherkönig Pimps sein Quartier hat), rief Stefan an. „Ja“, sagte er, „das ist das Haus, oberster Stock, komm rauf!“ Zum zweiten Mal tappte ich durch den unbeleuchteten Hof, stieß, nun etwas ärgerlich, weil ich mich nicht schon beim ersten Mal hineingewagt hatte, die klapprige Tür auf. Aus dem Türspalt am ersten Treppenabsatz glomm Licht hervor und eine auf- und abschwellende, psychedelisch anmutende Musik tönte; ich schlug die Fingerknöchel an die Tür und trat unerschrocken ein. Das junge Pärchen in schwarzen Klamotten, beide schmal, hockte auf einer Matraze und sah uninteressiert auf, als ich plötzlich vor ihm stand und nach Stefan Heidenreich fragte. „Fünfter Stock“, sagte der Typ lahm. Ich dankte und zog die Tür hinter mir zu, stieg hinauf, klingelte – tatsächlich war an einem provisorisch angebrachten Türschild „Heidenreich“ zu erkennen – und folgte dem Rufen, das aus dem Inneren der Behausung drang. Ich fand die Küche, trat ein, Stefan und ein Freund – Gerhard aus Tübingen, wie sich herausstellte – saßen an einem kleinen Holztisch und sahen mir entgegen. Erschöpft ließ ich das Köfferchen sinken. Hatte es mich am Bahnhof Alexanderplatz, vor der Würstchenbude, vor einer Begegnung der unangenehmen Art bewahrt? Vielleicht hatten die Skins ja gedacht: „Ein Tourie mit Köfferchen, der ist nicht aus Kreuzberg, den lassen wir mal laufen.“
- Etwas regnerisch, aber es fielen kaum Tropfen. Graue Wolken in einem blaugrauen Himmel. Später am Tag doch ein wenig Niederschlag.
21.9.2002

20
Sep

20.9.2002

Ab der Augustmitte im Jahr 1993 – noch immer hatte ich Magenbeschwerden, obwohl die Nacht, in der ich mich heftig erbrochen hatte und danach nie wieder Alkohol zu mir nahm, nach einer Woche, in der ich (zum ersten Mal während meiner bis dahin schon zwölfjährigen Arbeit als Filmvorführer) krank geschrieben war und mich selbst entgiftete, schon Monate hinter mir lag – korrigierte ich meine bis zu diesem Zeitpunkt geschriebenen Gedichte, jedenfalls die Texte, die ich für Gedichte hielt (und doch nicht alle) und setzte diese Tätigkeit im September kontinuierlich fort. „Jetzt oder nie mehr“, so sagte ich mir, „versuche ich es noch einmal mit der Literatur.“ Im September wurde ich zweiundvierzig Jahre alt – was mir sehr eigenartig vorkam – , und was hatte ich vollbracht? In zwanzig und mehr Jahren hatte ich mich damit herumgeplagt, passable Texte, und nicht nur SF- und Westernmanuskripte, zustande zu bringen, und hatte ich einmal eine Geschichte begonnen, die eine längere werden sollte, gab ich die Arbeit an diesen Seiten regelmäßig auf; Fragmente verschiedener Art, auch Hörspiel- und Filmtexte, blieben in den Schreibtischschubladen und im Schrank zurück. Glücklich war ich in allem, was hinter mir lag, nicht geworden. Was lag schon alles hinter mir? Alles nicht des Redens und Schreibens wert. Oft dachte ich so.
Die Gedichte jedenfalls brachte ich in Schuß, wenn ich über die Reparaturarbeiten an diesen vermutlich nicht sehr hehren lyrischen Zeilen salopp berichten darf (und ich als selbstherrlicher Autor darf es), was mir, ich bin mir darüber im klaren, bei den sehr hoch angesiedelten Angehörigen der elitären Zunft kaum Sympathien einbringen dürfte. Sei’s drum! Im September 1993 war ich noch immer damit beschäftigt und genehmigte mir einige Tage Urlaub vom Kino und fuhr nach Berlin. Fünf steile Treppen stieg ich in den fünften Stock im Hinterhaus der Alten Schönhauser 29 zu Stefan Heidenreichs Wohnung hinauf, in die ich mein Lederköfferchen stellte. In Berlin herrschte spätsommerlich schönes Wetter und ich streifte durch die Stadt, in der ich seit November 1990 nicht mehr gewesen war. Im Herbst 1990 war ich zum ersten Mal nach 1963 in Berlin gewesen; und fünfzehn Jahre lang, von Herbst 1975 bis zum Herbst 1990, hatte ich keine Nacht außerhalb Biberachs zugebracht. Ich hatte in der kleinen Stadt wie eingesperrt gelebt. Nun, 1993, sah ich zum ersten Mal Berlins „neue Mitte“: den historischen Teil Berlins, der von 1961 bis 1989 hinter der Mauer grau, fremdartig und unbemerkt von den BRD-Deutschen auf andere Zeiten gewartet hatte. Auf bessere sozialistische umso weniger, je älter die DDR wurde. (Ich muß das eben Geschriebene korrigieren: 1963 war ich ja mit meiner Mutter schon in „Mitte“ gewesen, als ich nicht gewußt hatte, daß dieses alte Zentrum des ehemaligen Großberlins „Mitte“ genannt wird; ich habe doch ein Foto, auf dem ich, vor den Absperrungen vor dem Brandenburger Tor, Unter den Linden in mein braunes Anzüglein gekleidet zu sehen bin. Ich vergaß aber alles, was ich damals in jenen Stunden in Ost-Berlin gesehen hatte.) 1993 fuhr ich mit einem Auto nach Berlin, in das ich mich von der Mitfahrzentrale in Ulm für sechs oder sieben Stunden einquartieren ließ. Reichlich unsinnig begann diese Fahrt: zunächst mußte ich mit dem Zug nach Ravensburg, südlich in Oberschwaben gelegen, fahren und dort am Bahnhof auf das Auto nach Berlin warten, und ich stand dort zwanzig Minuten, bis es vorfuhr und ich einsteigen konnte. Ein junger Mann, der am westlichen Bodensee irgendeine Ausbildung absolvierte, steuerte es, ein anderer Typ und ein Mädchen, halbherzig punkig aufgemacht, fuhren mit. Wir kamen natürlich über Biberach und am sogenannten „Jordanei“ kurvten wir auf die neue B 30, die Schnellstraße nach Ulm. Dann ging’s über die Autobahn nach Crailsheim und, rechts abgebogen, nach Nürnberg, von dort nach Norden. Diese Strecke kannte ich: auch Axel N. und seine aktuelle Freundin, mit denen ich 1990 nach Berlin gefahren war, hatten sie genommen.
- Zunächst sonnig, dann Vertrübung; graue große Wolken waren unterwegs; kein Regen; frisch.
20.9.2002

19
Sep

19.9.2002

Eines Nachmittags im Juli oder August 1975 saß ich mit Elian im „Pflug“, und sie hatte einen jungen Mann mit langen rotblonden Haaren, der Brille trug, mitgebracht, den sie aus Juso-Kreisen, zu denen sie noch sporadische Verbindungen pflegte, kannte und den ich zum ersten Mal wahrnahm. Sein Name war Oswald Metzger; er kam aus Bad Schussenried, einer noch kleineren Klein- und Kurstadt etwa zwanzig Kilometer südlich von Biberach, und er wirkte auf mich zunächst ein wenig schüchtern. Wir redeten über linke Politik und er war mir nicht links genug. Die Juso-Positionen, die er vertrat, waren mir sattsam bekannt, und mir schien zudem, daß er sie nicht mit ganzer Überzeugung vertrat. Rasch verlor ich während des Gesprächs das Interesse, wurde gleichgültig, was Elian wortlos bedauerte, und der Juso-Schüler – M. hatte in jenem Sommer sein Abitur abgelegt – ging dann. Es mag wohl auch so gewesen sein, daß ich an diesem sonnenhellen Nachmittag im kühlen Gastraum auch wenig Lust an Unterhaltungen politischer Art hatte; eine der ersten Andeutungen der Distanzierung, die ich nicht viel später, im Herbst, vollziehen sollte. Oder traf ich Metzger 1974? Erst 1977 hörte ich wieder von ihm. In seiner Heimatstadt Bad S. gab er den durchaus beachteten „Motzer“ heraus, ein linksalternatives, in Eigenproduktion hergestelltes Blättchen, in dem er und andere – von den Jusos hatte er sich inzwischen verabschiedet – Artikel veröffentlichten, die den lokalen CDU-Leuten und der Stadtverwaltung, und auch der Landkreisverwaltung, gar nicht schmeckten, aber manchmal Wirkung dergestalt zeigten, daß benannte Mißstände und Unsinnigkeiten allmählich ins Bewußtsein der Bürgerschaft und der Gemeindeverwaltung rückten. An manchen Abenden im Frühjahr 1977 trat Ralph H. in mein Zimmer in der Karpfengasse freudig aufgeregt herein – ich hatte ihm eine Kammer im obersten Stock überlassen – und berichtete mir von der eben im Nachbarstädtchen beendeten Redaktionssitzung zur Herstellung der neuesten Ausgabe des „Motzers“, in der wieder eine seiner Politcomic-Zeichnungen zu sehen wären. Ich hatte in den Monaten davor vom „Motzer“ schon gehört und gelesen, in der „Schwäbischen Zeitung“, daß dieser Metzger eine aktive Figur im politischen Leben der Region geworden war, und korrigierte meine Einschätzung vom Jahr 1975 (oder 1974) nach oben. Wirklich interessiert war ich an diesen Aktivitäten nicht mehr, zeigte mich Ralph gegenüber aber wegen der Aufschreckung CDU-schwäbischer Landschaften und der angriffslustigen Verve, die Metzger an den Tag legte, wohlwollend erfreut. Das Blättchen hielt ein paar Jahre durch, und als es einging, saß M. im Gemeinderat der Kur- und Badestadt und schickte sich an, in den Landkreisrat gewählt zu werden, was einige Zeit danach geschah. Die „Grünen“ waren in Mode gekommen und hatten noch einiges vom ideologischen Material der linken „Bewegungen“ der Siebziger geerbt, und O.M. war jetzt Sprecher einer lokalen „Alternativen Liste“, die später meines Wissens in der Partei der Grünen aufging. Zu Beginn ihrer Existenz, 1981 oder 1982, wählte auch ich einmal „grün“, aber das ließ ich dann wieder bleiben und zog es prinzipiell vor, meine Wahlstimme zu behalten und nicht mit der Zeichnung des Analphabetenkreuzchens herzugeben. Die Partei der „Grünen“, das Sammelbecken für rechte Naturfreaks und halbuntergegangene K-Gruppen-Angehörige, Alt-Apo-Figuren und Spontaneisten wie Joseph Fischer, Ökologen und aufstrebende Karrieristen, die doch noch zu etwas kommen wollten, machte in der bundesrepublikanischen Politlandschaft Karriere, und O.M. auch. Nach dem vergeblichen Versuch, den Bürgermeistersessel von Bad S. zu erklimmen, wandte der früher Langhaar-Rotblonde sich, nach einem Intermezzo in Stuttgart als Geschäftsführer der Kommunalpolitischen Vereinigung, der Bundespolitik zu. Im „Sternchen“ standen er und ein paar andere seiner politischen Freunde zu Beginn der neunziger Jahre nach einem Filmabend an der Theke und ich, von einer meiner Launen beherrscht, gab ihnen eine Runde Wein aus. Tage danach war er in der Biberacher Innenstadt auf Stimmenfang zu einer Bundestagswahl. „Aber auch die Zweitstimme geben, die ist die wichtige!“, mahnte er mich, als sei ich ein politischer Laie. Leider hatte ich damals den Fehler begangen, ihn zu wählen. So genau wußte man auch noch nicht, was „Ossi“ zu treiben beabsichtigte. Er entpuppte sich als einer der neoliberalen „Realos“, dessen Auftritte im Zeichen des Sparwahns einer „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ immer gut gefielen. Und in zwei Tagen ist seine Laufbahn als Bundestagsabgeordneter – mit dem Faible für bundesdeutsche „Ordnungspolitik“ und schwarzgrünen Optionen – ja auch wieder beendet. Abserviert von den eigenen Leuten. Er kann sich nun stärker für die Aufgaben der Rüstungsindustrie engagieren.
- Vormittags grau, nachmittags drang das Sonnenlicht durch, die Wolkendecke verteilte sich, schönes Frühherbstwetter. Mittags sogar warm.
Eines Nachmittags im Juli oder August 1975 saß ich mit Elian im „Pflug“, und sie hatte einen jungen Mann mit langen rotblonden Haaren, der Brille trug, mitgebracht, den sie aus Juso-Kreisen, zu denen sie noch sporadische Verbindungen pflegte, kannte und den ich zum ersten Mal wahrnahm. Sein Name war Oswald Metzger; er kam aus Bad Schussenried, einer noch kleineren Klein- und Kurstadt etwa zwanzig Kilometer südlich von Biberach, und er wirkte auf mich zunächst ein wenig schüchtern. Wir redeten über linke Politik und er war mir nicht links genug. Die Juso-Positionen, die er vertrat, waren mir sattsam bekannt, und mir schien zudem, daß er sie nicht mit ganzer Überzeugung vertrat. Rasch verlor ich während des Gesprächs das Interesse, wurde gleichgültig, was Elian wortlos bedauerte, und der Juso-Schüler – M. hatte in jenem Sommer sein Abitur abgelegt – ging dann. Es mag wohl auch so gewesen sein, daß ich an diesem sonnenhellen Nachmittag im kühlen Gastraum auch wenig Lust an Unterhaltungen politischer Art hatte; eine der ersten Andeutungen der Distanzierung, die ich nicht viel später, im Herbst, vollziehen sollte. Oder traf ich Metzger 1974? Erst 1977 hörte ich wieder von ihm. In seiner Heimatstadt Bad S. gab er den durchaus beachteten „Motzer“ heraus, ein linksalternatives, in Eigenproduktion hergestelltes Blättchen, in dem er und andere – von den Jusos hatte er sich inzwischen verabschiedet – Artikel veröffentlichten, die den lokalen CDU-Leuten und der Stadtverwaltung, und auch der Landkreisverwaltung, gar nicht schmeckten, aber manchmal Wirkung dergestalt zeigten, daß benannte Mißstände und Unsinnigkeiten allmählich ins Bewußtsein der Bürgerschaft und der Gemeindeverwaltung rückten. An manchen Abenden im Frühjahr 1977 trat Ralph H. in mein Zimmer in der Karpfengasse freudig aufgeregt herein – ich hatte ihm eine Kammer im obersten Stock überlassen – und berichtete mir von der eben im Nachbarstädtchen beendeten Redaktionssitzung zur Herstellung der neuesten Ausgabe des „Motzers“, in der wieder eine seiner Politcomic-Zeichnungen zu sehen wären. Ich hatte in den Monaten davor vom „Motzer“ schon gehört und gelesen, in der „Schwäbischen Zeitung“, daß dieser Metzger eine aktive Figur im politischen Leben der Region geworden war, und korrigierte meine Einschätzung vom Jahr 1975 (oder 1974) nach oben. Wirklich interessiert war ich an diesen Aktivitäten nicht mehr, zeigte mich Ralph gegenüber aber wegen der Aufschreckung CDU-schwäbischer Landschaften und der angriffslustigen Verve, die Metzger an den Tag legte, wohlwollend erfreut. Das Blättchen hielt ein paar Jahre durch, und als es einging, saß M. im Gemeinderat der Kur- und Badestadt und schickte sich an, in den Landkreisrat gewählt zu werden, was einige Zeit danach geschah. Die „Grünen“ waren in Mode gekommen und hatten noch einiges vom ideologischen Material der linken „Bewegungen“ der Siebziger geerbt, und O.M. war jetzt Sprecher einer lokalen „Alternativen Liste“, die später meines Wissens in der Partei der Grünen aufging. Zu Beginn ihrer Existenz, 1981 oder 1982, wählte auch ich einmal „grün“, aber das ließ ich dann wieder bleiben und zog es prinzipiell vor, meine Wahlstimme zu behalten und nicht mit der Zeichnung des Analphabetenkreuzchens herzugeben. Die Partei der „Grünen“, das Sammelbecken für rechte Naturfreaks und halbuntergegangene K-Gruppen-Angehörige, Alt-Apo-Figuren und Spontaneisten wie Joseph Fischer, Ökologen und aufstrebende Karrieristen, die doch noch zu etwas kommen wollten, machte in der bundesrepublikanischen Politlandschaft Karriere, und O.M. auch. Nach dem vergeblichen Versuch, den Bürgermeistersessel von Bad S. zu erklimmen, wandte der früher Langhaar-Rotblonde sich, nach einem Intermezzo in Stuttgart als Geschäftsführer der Kommunalpolitischen Vereinigung, der Bundespolitik zu. Im „Sternchen“ standen er und ein paar andere seiner politischen Freunde zu Beginn der neunziger Jahre nach einem Filmabend an der Theke und ich, von einer meiner Launen beherrscht, gab ihnen eine Runde Wein aus. Tage danach war er in der Biberacher Innenstadt auf Stimmenfang zu einer Bundestagswahl. „Aber auch die Zweitstimme geben, die ist die wichtige!“, mahnte er mich, als sei ich ein politischer Laie. Leider hatte ich damals den Fehler begangen, ihn zu wählen. So genau wußte man auch noch nicht, was „Ossi“ zu treiben beabsichtigte. Er entpuppte sich als einer der neoliberalen „Realos“, dessen Auftritte im Zeichen des Sparwahns einer „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ immer gut gefielen. Und in zwei Tagen ist seine Laufbahn als Bundestagsabgeordneter – mit dem Faible für bundesdeutsche „Ordnungspolitik“ und schwarzgrünen Optionen – ja auch wieder beendet. Abserviert von den eigenen Leuten. Er kann sich nun stärker für die Aufgaben der Rüstungsindustrie engagieren.
- Vormittags grau, nachmittags drang das Sonnenlicht durch, die Wolkendecke verteilte sich, schönes Frühherbstwetter. Mittags sogar warm.
19.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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