29.12.2002
In diesem Jahr 1979 gründeten junge Schwule, von denen ich nichts wußte, die mir auch erst später im Jahr zum ersten Mal über den Weg liefen, weil sie oft gemeinsam ins Kino gingen, doch tatsächlich eine Schwulengruppe für den Landkreis. HELB e.V., „Homosexuelle Emanzipationsgruppe Laupheim-Biberach e.V.“, hieß dieser Verein. Einer von den Mitgliedern, ein großer schlanker Typ, in nicht allzu auffälliger Weise effeminiert, begegnete mir häufiger; oft hockte oder stand er, allein oder mit einem älteren Kollegen mit Schnauzer, in den Schaufenstern eines Textilhauses in der Innenstadt, an dem ich, vom Bus kommend, der auf dem Marktplatz den Start- und Endpunkt seiner Stadtroute hatte, durch die Schrannenstraße, in der die Stadtbibliothek sich befand, gehend, vorbeikam, wenn ich – damals erst am frühen Abend – zum Kino ging. Wir grüßten dann einander mit einem Handzeichen. Er wohnte in meiner Gegend auf dem Hühnerfeld, fuhr einen Ford Capri, ein Automodell, das damals eine Art Sportwagen für den mittelprächtigen Geldbeutel war und inzwischen, weil es schon lange nicht mehr hergestellt wird, ein Auto für Liebhaber geworden ist. Es kam an den Wochenenden manchmal vor, daß er mich mitnahm hinunter in die Stadt, wenn ich zu Fuß meinen Weg zum Kino ging und wir uns auf der Amriswilstraße des Hühnerfelds zufällig sahen. Er war freundlich, jedoch nicht mein Typ. Einige Männer aus dieser Gruppe frequentierten das „Alte Haus“, gelegentlich sah ich sie dort, wenn ich mit jemanden aus meinem Kreis dort saß, dann winkte man sich über die Tische hinweg zu, was mich jedoch nie veranlaßte, meinen Sitzplatz zu verlassen, um ein paar Worte mit diesen Jungs, die um etliche Jahre jünger als ich waren, zu wechseln. Nicht, daß ich mich nicht mit ihnen hätte sehen lassen wollen, es war nur so, daß mich keiner von ihnen interessierte. Keiner war mir hübsch genug. Den Namen dieses Dekorateurs habe ich vergessen. Nicht vergessen dagegen den von Herbert T., der, soweit mein sehr spärlicher Einblick ins Geschehen der HELB, in deren Gruppenraum ich nur einmal mit Jean D. – wir erinnern uns an den Vorfall auf dem Balkon? – erschien, weil er die jungen Männer dort kennen lernen wollte, nachdem ich ihm von der Existenz der Gruppe etwas gesagt hatte, mir überhaupt eine Einschätzung erlaubt, einer der motiviertesten Gruppenmitglieder war. Diesen Eindruck hatte ich zumindest zu Beginn der Neunziger, als er einer der Organisatoren der „1. Schwul-lesbischen Kulturtage“ in Biberach war, die 1991 oder 1992 ein für die Provinz nahezu unglaublich vielseitiges Programm für vier Wochen aufboten. Die Kulturtage wurden in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt und der VHS durchgeführt, und am Eröffnungsabend sprach die Leiterin beider Ämter, Marianne Sikora-Schoeck, im gut gefüllten Foyer der VHS davon, daß die Stadt Biberach selbstverständlich auch die kulturellen Initiativen von gleichgeschlechtlich orientierten Menschen unterstütze. Zwanzig Jahre, oder fünfzehn, zuvor wäre dies undenkbar gewesen. Biberach – nicht nur eine ehemalige APO-Hochburg, sondern auch eine Stadt für Schwule und Lesben? Wo waren die Schwulen in früheren Jahren gewesen? Sie hatten sich so gut getarnt, daß ich nie einen von ihnen erkannt hatte. Natürlich ist Biberach nach wie vor keine Stadt für Schwule und Lesben. Wenigstens war die Schwulenbewegung im Jahr 1979 auch in Oberschwaben angekommen, und dann dauerte es immer noch mehr als zehn Jahre, bis das Vorhandensein dieser „Minderheit“ offiziell angesprochen wurde. Im Oktober 1995, als die „2. Schwul-lesbischen Kulturtage“ stattfanden, war ich als Lesender aus eigenen Texten mit dabei. Herbert T. hatte mich, nachdem ich im Frühjahr in der VHS Lyrik gelesen hatte, angesprochen, ob ich etwas beitragen könne. „Das schwule Thema“, sagte ich ihm durchs Telefon, „ist eines, das ich eher selten erwähne, doch ich habe ein paar Texte, in denen ich ausdrücklich darauf zu sprechen komme.“ Der neue Oberbürgermeister F., ein SPD-Mann, übernahm die Schirmherrschaft und lud, als die Tage im Oktober herangenaht waren, auch ins Rathaus ein, wo er eine freundliche Rede hielt. An einem Samstagabend holte mich ein junger Typ, der mich siezte, was ich seltsam fand (so alt war ich doch noch gar nicht ...), vor der Wohnblockeingangstür ab und wir fuhren zum Pestalozzi-Haus, in dem die Jugendmusikschule ihren Sitz hatte und hat, in dessen Saal, mir seit Jahrzehnten bekannt, Veranstaltungen stattfanden, eben auch die, an der ich mitwirkte. Der Schwulenchor „Querflöten“ – dem ich in den Wochen vor dem Auftritt die Texte, die zu lesen ich beabsichtigte, hatte zukommen lassen – aus Freiburg sang, zwischen den Songs und Liedern las ich meine Sachen. Meinen „Lüstling-Song“ wollten sie nicht aufführen, „das ist uns zu brutal.“ Aber eine Melodie hatten sie dafür komponiert und ich bekam die Kassette. „Im Kontrast zu den Darbietungen des Chores und im Wechsel mit diesem“, stand dann in der Zeitung, las der Biberacher Dichter ....“, hier erschien mein Name, „eigene Lyrik. Eine eigenartig oszillierende Welt leuchtete darin auf, in der banale Alltagssituationen in der Schwebe liegen zu Abschweifungen der Phantasie und homoerotischer Gefühle. Dabei schwang ein ironisierender Unterton mit, wenn etwa einprägsame lyrische Wortschöpfungen auf obszön gefärbte Alltagssprache prallten. Erfreulich für Vortragende und Veranstalter war der rege Publikumszuspruch, und so ließen die Anwesenden diesen gelungenen Abend bestens gelaunt in einer kleinen Feier ausklingen.“ An der ich übrigens nicht teilnahm. Im Buch eines bekannten Berliner Schwulenaktivisten wurde die HELB als Beispiel für das schwule Leben in der Provinz portraitiert. Und doch versandeten diese Bemühungen am Ende der neunziger Jahre. Herbert T. hatte die Stadt verlassen. Die Schwulengruppe gibt es nicht mehr.
- Ein statisches Grau über und in Berlin. Vormittags etwas Sonne.
29.12.2002
- Ein statisches Grau über und in Berlin. Vormittags etwas Sonne.
29.12.2002
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