11
Nov

11.11.2002

In den Neunzigern bildete ich die mir sehr angenehme Gewohnheit aus – am Begriff des Rituals hängt ja ein unterschwelliger unangenehmer Ton – , nach dem Beginn der Nachtvorstellung (zumindest in den ersten neunziger Jahren spielte man im „Sternchen“ noch einen Spätfilm an allen Wochentagen) das Areal der Kinos mit Einverständnis des Kinobesitzers (und das Weggehen konnte ich mir auch nur dann erlauben, wenn er im Hause war) zu verlassen und durch die dunkle Innenstadt, in der eine nächtliche Stille war und mir oft kein einziger Passant über den Weg ging, in die Justinus-Heinrich-Knecht-Straße zu streben und auf das Klingelschild mit dem darin eingeschriebenen Namen „Klaus Leupolz“ zu drücken. Im Herbst eilte ich über zertretene braune Blätter, die die Winde irgendwo aufnahmen und dann achtlos über den Straßen der Stadt fallen ließen, im Winter knirschte, wenn die Minusgrade im Gesicht zu spüren waren, der festgetretene Schnee unter meinen Stiefeln, wenn ich durch die Gassen und Gäßchen hastete, um möglichst wenig Zeit zu verlieren. Hatte ich geklingelt, dann wurde das linke der beiden obersten Fenster geöffnet und Klausens Kopf erschien im Fensterrahmen; „ich bin’s!“, rief ich hinauf, aber das konnte er vorab wissen, und er sah nur deshalb nach, auf daß sich nicht doch einmal ein unerwarteter, vermutlich eher unwillkommener Spätabendbesuch in diese Strasse, vor dieses Haus, begeben hatte, der eingelassen werden konnte – oder auch nicht. Dann summte die elektrische Türöffneranlage, ich drückte die Tür auf, betrat den schmalen Eingangsflur, der hinter einer zweiten Tür, und sie und die Haustür bildeten einen Windfang, lag, und stieg die ebenfalls nicht breite Holztreppe hinauf in den dritten Stock. Dort stand die Tür zum Wohnraum offen, ich klopfte dennoch, „come in!“ kam der Ruf von innen und ich trat ein. „Störe ich?“, fragte ich vorsichts- und auch ein bißchen schon gewohnheitshalber, doch nie störte ich. „You’re welcome“, war höchstens die freundliche Antwort. Ich nahm auf dem alten Sessel an der Wand vor dem Bücherregal Platz, Klaus auf seinem gegenüberstehenden, dazwischen stand der niedrige Tisch, auf dem – 1992 nahm ich noch Alkohol zu mir – fast immer eine Tüte mit Rotwein vom „Lidl“ darauf wartete, vor allem von mir geleert zu werden. Wir tranken oft Tütenwein, auch L. lebte in sparsamen Verhältnissen. Wir hatten uns an ihn gewöhnt. Klaus schenkte mir ein, ich stürzte das erste Glas hinunter, um das stets in mir vorhandene sehr feine Vibrieren zu mildern; ich stand immer unter Strom und brauchte Nachschub. Wir plauderten über dieses und jenes, über die neuesten privaten und politischen Vorkommnisse (und auch das Private war und ist ja immer politisch, wie nach 1968 die Erkenntnis war), ich klagte mein Leid über die in dieser Stunde zu Ende gehende Kinowoche, denn montags hatte ich ja frei, redete davon, den Job hinzuwerfen, denn er war mir in manchen Tagen unerträglich geworden. Wir besprachen, was am Montag, am nächsten Abend, geschehen könnte, wo man zusammen säße, bei ihm oder bei mir oder in einer Kneipe. Wir lachten aber auch viel, und dafür boten die Biberacher Verhältnisse reichlich Anlaß; nicht nur sie. So verging eine Stunde und ich verließ meinen alten Freund wieder, eilte durch die schlafende Stadt zurück, um den Film abzustellen, was ich nicht selten auch dann tat, wenn A.K. im Haus, in seiner Wohnung, war. Aber auch aus einem anderen Grund betrat ich noch einmal das Kino: ich hatte eineinhalb Stunden zuvor mit der „Sternchen“-Dame, die bis zum Schluß, bis zur täglichen Abrechnung, bleiben mußte, vereinbart, daß sie mich auf’s Hühnerfeld chauffierte. Ich verbrachte noch eine halbe Stunde im „Sternchen“, unterhielt mich mit der Bedienerin, die hinter dem Tresen Gläser spülte und den Thekenbereich säuberte, bis der Hausherr kam und sich für Umsatz und Gewinn interessierte. Danach Abfahrt. Als die Nachtvorstellungen im „Sternchen“ aufgegeben waren, kehrte ich natürlich nicht mehr ins Kino zurück, sondern machte mich, um ein Uhr oder später, nach der Sitzung bei Klaus L. auf meinen langen Heimweg in der finsteren Biberacher Nacht. – Heute jährt sich der Todestag meines Freundes zum ersten Mal. Ihm zum Gedenken setze ich hier den Nachruf darunter, den ich vor einem Jahr in der Biberacher Presse veröffentlichte, und das Foto, das Manfred Schmidt 1992 von Klaus Leupolz in seiner, Manfreds Wohnung, aufnahm.

Zum Tod von Klaus Leupolz

Ein Charaktermensch
BIBERACH (kd) – Klaus Leupolz, der am vergangenen Sonntag nach schwerer Krankheit im 72. Lebensjahr gestorben ist, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten des Biberacher Stadt- und Kulturlebens, gerade weil er sich nie vom offiziellen Betrieb vereinnahmen lassen wollte, nicht zu den „Etablierten“ gehörte. Ein Charaktermensch; ein schwieriger oft für manchen, der nicht zu seinen Vertrauten zählte oder gezählt werden durfte. Sein Urteil über bestimmte Vorgänge, Zustände, Menschen konnte, nicht zuletzt die Kunstangelegenheiten betreffend, apodiktisch, schroff, endgültig, manchmal auch nicht immer gerecht, sein. „Kunstschwätzer“ und Mitläufer, in welchen Dingen auch immer, waren ihm nicht genehm; gelegentlich machte er seinem Unmut über Abderitisches und offenkundige Ignoranz in pseudoidyllischen satirischen Schriften und Leserbriefen an das örtliche Blatt Luft, nicht ungern mit einem Ton gewürzt, der sich dem einen oder anderen Rezipienten leicht ätzend auf die Gehirnwindungen legte – und legen sollte. Er sagte, was er dachte.
Dabei – wenn man genau hinsah, merkte man‘s – konnte er, aus eingesessener Biberacher Familie stammend, dieser Stadt etwas abgewinnen. Stets kam er, in den Sechziger-, in den Siebzigerjahren, von manchmal mehrjährigen Globetrotterreisen in andere Hemisphären, bevorzugt war der pazifische Raum mit Australien, Neuseeland, Malaysia, Thailand (fast ein Jahr lang lebte er dort als buddhistischer Mönch), zurück ins „Städtchen“. Nur das auch für Biberach prägnante Jahr 1968 hatte er „versäumt“, wie er manchmal bedauerte; dafür war ein anderes Mitglied der Familie, neben anderen, zuständig ...
In ironischer Haltung, die zum Sarkasmus neigte, kommentierte er kopfschüttelnd, lächelnd, lachend, die Biberacher Ereignisse, wenn sie ihm gar zu verstockt-verhockt erschienen. Dann unternahm er etwas, das dann als „typisch Leupolz“ bezeichnet wurde: zog, bunt gekleidet, mit seinem mannshohen fahrbaren und gelenkigen Biber durch die Stadt, stellte ihn am Ort eines fragwürdigen Geschehens auf, mit krummer Kralle zeigte der Biber darauf; oder war engagiert bei politischen und kulturellen Initiativen dabei; auch ein erbitterter Wutausbruch, alttestamentarisch heftig, konnte schon vorkommen.
Denn: er war einer, der verändern wollte, aufmerksam machen wollte. Ein – durchaus heiterer - Provokateur (im positiven Sinn). 1971 war er maßgeblich an der alternativen „Aktion Fortschritt“ im Vorfeld der damaligen Gemeinderatswahl beteiligt; er hätte einen Sitz im Rathaus bekommen können, wenn er es denn gewollt hätte. Er zog es vor, sich nicht vereinnehmen zu lassen, unabhängig zu sein. Aus Prinzip. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Partei der Grünen in Biberach, zu den Demonstranten gegen den Flugplatzausbau Anfang der Achtzigerjahre, zeichnete in den ersten Jahren der Kutter’schen Filmfestspiele die Plakate, war Mitherausgeber der von der Stadt Biberach finanzierten Sonderbeilage der Schwäbischen Zeitung zu den Baden-Württembergischen Literaturtagen im Jahr 1992.
Gelernter Zimmermann, machte er seinen Bauingenieur in Stuttgart; auch besuchte er die legendäre Hochschule für Gestaltung in Ulm. Eine Zeitlang übte er den Ingenieursberuf aus. Nach der Ankunft von einer seiner Reisen in Biberach 1969 begann er, als Autodidakt, zu malen; farbenintensive Ölbilder, deren wiederum witzig-ironisch-skurril-verspielte Sujets vor allem die Biberacher Stadtlandschaft zum Inhalt haben, in denen die „Gollywobbles“ (bezeichnet z.B. als „Tränenklau“) ihr schelmisch-unheimliches Wesen treiben. Sein künstlerisches Werk kann im weitesten Sinn zur Phantastischen Malerei gezählt werden. Programmatisch sein „Prokrustesbett“: zurechtgeschnitten und eingepasst in einen vorgegebenen Rahmen – eben das kam für ihn nicht in Frage.
In seiner „Galerie Kuckuck“ in der Engelgasse stellte er in den Siebzigerjahren nicht nur seine Bilder, sondern auch die von anderen aus. Klaus Leupolz war damals an der Jahresschau der Biberacher Künstler im Museum beteiligt, zeigte 1979 seine „Frottagen“ vom „Biberacher Bilderbaum“, der Buche auf der Schillerhöhe, in der Galerie in der Unteren Schranne.
Er lebte materiell bescheiden. Nach einer ersten, schwierigen Operation reiste er noch einmal, allein, doch mit Rucksack, für zweieinhalb Monate durch Australien und Asien, auf alten Pfaden wandelnd. Philosophisch gebildet, ertrug er dann sein jahrelanges Leiden stoisch. Biberach ist um einen kantigen Menschen ärmer.

tagumtag_nekrolog
- Nieselregen, alles grau, naßkalt.
11.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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