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Nov

8.11.2002

An einem Sonntag – nehmen wir einen im Frühjahr des Jahres 1992 – stand ich kaum vor elf Uhr auf. Die Nacht des Samstags war lang gewesen; der ganze Samstag war lang gewesen: Mittags zum Einkaufen auf den Markt, in die Geschäfte, die um den Marktplatz liegen, oder lagen, muß ich aus der heutigen Perspektive schreiben, dann oft in ein Café, bis der Stadtbus zum Hühnerfeld fuhr, oder auch nicht ins Café. Zuhause machte ich mir ein schnelles Mahl, dann ging ich hinunter in die Stadt (die Stadtbusse fuhren nicht mehr) zum Kino. Für diesen Weg brauchte ich genau fünfundzwanzig Minuten, ob’s stürmte oder schneite. Ich schloß mit einem Schlüssel, der neben anderen an dem Schlüsselring hing, dessen Anhängsel die Kinotüren auf- und abschlossen, die Privateingangstür zum „Urania“-Gebäude, die neben der Innenhofstreppe zum Foyer ins Haus Einlaß gibt, auf und deponierte zunächst den Beutel, in dem ich ein paar Kleinigkeiten zum Verzehren für den Abend mit mir führte, in einer Ecke neben den Stapeln von Filmplakat- und –bildermaterial, das in den braunen Tüten der Verleihfirmen im Treppenhaus – immer an der Wand lang – zu Stößen von manchmal einem Meter bis ins oberste Geschoß hinauf gelagert war. Oft hatte ich mir die mittägliche Busfahrt vor den Wohnblock erspart, um länger im Café plaudern zu können; eher aber las ich zu diesen Stunden das Feuilleton der F.A.Z. oder der „Süddeutschen“. Im Kino stellte ich dann die Plastiktasche von „Lidl“ oder „Kaiser’s“, angefüllt mit Lebensmitteln und einer Flasche Wein oder zweien, in der sich häufig auch eine Flasche Whisky oder Rum befand, in diese Ecke vor, wenn man die Innenansicht des Treppenhauses wählt, der Eingangstür. Entweder schloß ich dann die Zwischentür, die vom Treppenhaus ins „Urania“-Foyer führt, auf, um sofort den Nachmittagsfilm im engen Vorführraum hinter dem „Stardust“-Kino in den Projektor zu legen, um auch die Innenbeleuchtung des Kinos und den Kassettenrecorder, der die Einlaßmusik abspielte, einzuschalten, oder ich stieg erst einmal die Treppe hinauf zum ersten Stock, um von dort durch die in die Wand eingelassene Tür zum Garderoben- und WC-Flur des „Sternchens“ und weiter, durch die zweite, zu dieser Stunde immer offenstehende Tür, in den Saalbereich zu gehen, dort die ebenfalls offenstehende Tür, etwas versteckt im Gang, der links im Saal den Zugang zu den Sitz- und Tischreihen erlaubt, gelegen, hinter mir lassend den Vorführraum für das „Urania“-und „Sternchen“-Kino zu betreten. Das galt für Samstage und Sonntage, so daß wir wieder im Sonntag sind. Zuerst öffnete ich das Fenster, das am Ende des dunklen Vorführraums den Blick ins Freie gestattete und frische Luft hereinließ, solange für’s „Sternchen“ kein Film abgespult wurde. Ich schaltete mit einem klobigen Schalter an der Schaltwand die Gleichrichter im Gleichrichter-Raum ein, ein tiefes Brummen kam auf, das bis zum Ende des Kinotags, bis nach ein Uhr, nun den Vorführraum erfüllte; ein Ton, den ich häufig kaum noch wahrnahm, so hatte ich mich im Laufe der Jahre an ihn gewöhnt. Danach war in diesem Kabuff, in dem die Gleichrichter – der Strom für die Projektoren mußte umgewandelt werden – standen, an einem anderen Schaltkasten die Notbeleuchtung für „Urania“ und „Sternchen“ einzuschalten, danach die Klimanlage für das nebenan gelegene Kino, eben das letztgenannte, deren sichtbarer Teil ein voluminöser Kasten seitlich links über dem sehr alten, dunkelbraunen Arbeitstisch aus Holz war; eventuell regulierte ich mit einem Knopf die für das Kino notwendige Temperatur, immer aber im Winter oder an kalten Tagen; und der Kinobesitzer drehte sie dann während des Abends wieder hinunter ... Die große Filmspule mit den Vorprogrammfilmen – Werbung, Trailer – wurde dem ebenfalls jahrzehntealten Spulenschrank entnommen und auf den Metallstift in der Mitte der offenen oberen Projektortrommel eines der beiden Projektoren des „Urania“-Kinos gesteckt, die Trommel dann geschlossen. Ein Filmstreifen von etwa einem Meter hing nun unten aus der Trommel heraus. Ihn, dessen Breite 35 Millimeter betrug, legte ich jetzt mit etwas Fingerspitzengefühl über Rollen mit und ohne winzige Metallzähne; die mit den Zähnen griffen in die zu beiden Seiten des Filmstreifens entlang laufende Perforation hinein und transportierte den Film durch die „Filmbahn“, durch deren fest verschlossene „Kammer“; hinter der das 1000-Watt-Auge darauf wartete, sein exorbitant kräftiges Licht durch die vor ihm nach unten strömenden einzelnen Filmbilder zu werfen. Vierundzwanzig Bilder pro Sekunde; diese Geschwindigkeit täuscht den Augen des Homo sapiens vor, die Figuren auf der Bildwand würden sich bewegen. Dieser Film, aus vielen einzelnen Filmen zusammengeklebt, war also das Vorprogramm für dieses Kino an diesem Tag.
- Grau-regnerischer Tag.
8.11.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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