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Nov

1. November 2002

Die Samstage und Sonntage, aber auch die Dienstage, die Mittwoche und auch Donnerstage, in denen ich – sagen wir: im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren – abends ins Kino ging, meistens in die 20.30 Uhr- oder 20.15 Uhr-Vorstellungen (je nach Filmdauer), waren besondere Tage. An den Freitagen – übrigens waren natürlich auch sie Kinotage – las ich, wenn ich in der Zeitung, die ich fast immer erst mittags aus dem Briefkasten zog, wenn ich von der Schule das Gartentürchen aufschwang (oder meine Mutter hatte das, bevor sie aus dem Haus gehen mußte, schon getan) und dann mit einer gewissen Genüßlichkeit aufblätterte, während ich das Mittagessen ohne sonderliche Beachtung verzehrte, auf einer der letzten Seiten, die ich zunächst inspizierte, die Kinoanzeigen vor allem andern; die waren als eine Leiste am unteren Ende, unter dem Sammelsurium der Klein- und Werbeanzeigen, die sich unter der Woche für die Kleinstadtleser in der Anzeigenabteilung der „Schwäbischen Zeitung“, Lokalausgabe Biberach, angesammelt hatten, abgedruckt, und wenn ich sie studierte, die Bildchen ansah, die als Werbemotive über den kleinen Zahlen, die die Anfangszeiten waren, standen, und die sonstigen Angaben, wie „Prädikat wertvoll“ oder „Prädikat besonders wertvoll“, und vielleicht auch zusätzlich die Angabe, in der wievielten Woche ein bestimmter Film schon gezeigt wurde, stieg in mir ein wohliges, angenehmes Gefühl auf, eine Art Wärmegefühl, das sich in mir ausbreitete, besonders, wenn an einem Freitag in damals allen drei Kinos, die es in B. in den sechziger Jahren erst gab, ein neues Programm anlief, und ich die Anzeigen, die in reduziertem Umfang unter der Woche auch wieder warben, noch nicht kannte. Denn dann war mir ziemlich klar, daß ich an diesem Wochenende wieder ins Kino gehen würde; oftmals kannte ich dann Bilder dieser neuen Filme, die ich vor den Schaukästen, die in der Doppeltür jener Garage im Innenhof zwischen „Filmtheater“ und „Urania“ angebracht sind, angesehen hatte, die freilich auch in den großen hohen Schaukästen an der Vorderfront des „Filmtheaters“ und an den niedrigeren des „Urania“-Kinos entlang der Foyerfront an der Saudengasse hingen, natürlich auch in den beiden – großen – Schaukästen an der Hofwand dieses bemerkenswerten Kinobaus aus den späten fünfziger Jahren; oder, um auch den anderen Kinobetrieb nicht zu vergessen, in den Schaukästen an der Frontseite des „Ringtheaters“ am Zeppelinring; und in den Wochen vor dem Start eines neuen Films hatte man als regelmäßiger Kinogeher, wie Walker Percy diese Sorte Menschen in einem seiner Romane, der den Titel „Der Kinogeher“ trägt , bezeichnet, mehr als einmal die Gelegenheit gehabt, sich auch eine „Vorschau“, wie diese Ankündigungszusammenstellungen von Filmbildern und -ausschnitten hießen und wohl noch immer so bezeichnet werden – seit etwas zwanzig Jahren hat sich der Begriff „Trailer“ beim Kinopublikum eingebürgert – anzusehen. Das Lesen der Kinoanzeigen war eines meiner Rituale, denn schon im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren hatte ich Rituale ausgebildet, die an bestimmten Tagen auszuführen waren; sie strukturierten bestimmte Stunden und waren auch ganz kleine Marksteine im Alltag; und es bereitete mir ein ganz eigenes Vergnügen, das sich dezent verhielt, wenn ich sie passierte. Ich suchte mir also an den Freitagen den Film aus, den ich am Tag danach oder am Sonntag oder gar am selben Abend ansehen wollte. Die Gewißheit, ins Kino zu gehen – sofern genug Kleingeld vorhanden war, und manchmal kramte ich eben in den Taschen der Mäntel meiner Mutter, ob sich da etwas finden ließe, das den Betrag für die Kinokasse aufstockte – , erfüllte mich dann mit einer stillen Vorfreude. Rechtzeitig (an manchen Tagen jedoch mußte ich mich auch sehr beeilen, wenn ich mich beim Lesen vertrödelt hatte oder eine häusliche Arbeit, die aus irgendeinem Grund gerade jetzt dazwischen kam, als ich mich aufmachen wollte) schritt ich hinunter in die Stadt. Ich schätze Pünktlichkeit seit jeher; Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige, wie einer der französischen Louis – war es nicht der vierzehnte ihrer? – sprach. Saß ich dann im großen Kinosaal, die Einlaßmusik, Melodien aus klassischen Western oder Abenteuer- und Kriegsfilmen, die ich längst gesehen hatte, tönte aus den hinter Verschalungen und der Bildwand verborgenen Lautsprechern, andere Kinogeher kamen einzeln oder in kleinen Gruppen mit zögerlichem Schritt in den Saal herein (ich saß, wenn ich es bezahlen konnte, im „Rücksitz I“ hinten), das Gemurmel im Saal wurde stärker, endlich dunkelte es in ihm sehr langsam, der erste Vorhang, ein gelb-goldener, teilte sich nach beiden Seiten – dann war der Abend schon gelungen, unabhängig von der Qualität des Films. In jenen Jahren sah ich mir am Ende der Vorführung den Titelabspann noch nicht ganz an; dann folgten, in den Siebzigern, wo es für einen Cinéphilen selbstverständlich war, einen Film in voller Länge, mithin auch den Nachspann, zu genießen, Filmabende, in denen – und hatte der Vorführer die Vorhänge zu früh sich wieder schließen lassen, ehe alle Titel „durch“ waren, erlaubte man sich, darüber ein paar mißgelaunte Worte zu äußern – ich bis zur letzten Zeile, zum letzten Logo, zum letzten „credit“ sitzen blieb; und nun, in meiner Berliner Zeit, stehe ich wieder mitten im Nachspann auf, und das deutet schon an, daß ich mich von dem Kinoenthusiasmus, den ich über viele Jahre hinweg pflegte, etwas distanziert habe. Damals, in den Sechzigern, die ich als glückliches Jahrzehnt empfand und empfinde (aber weiß man, daß man glücklich ist, wenn man es ist?), mehr denn je, die die vielleicht schönste Zeit meines Lebens waren, war eines meiner Rituale das, nach dem Verlassen des Kinos auf dem Heimgang an einen bestimmten Zigarettenautomaten, der an einer Wand eines Tabakwarenladens in der Hindenburgstraße hing, heranzutreten und mir eine Schachtel „Astor“ zu ziehen, eine der Nobelmarken des musikalisch und politisch revolutionären Jahrzehnts (in dem ich kleine aristokratisch anmutende Attitüden ausbildete), sie im Weitergehen aufzureißen, einen der weißen Stengel mit dem dunklen Korkfilter heraus zu ziehen, zwischen die Lippen zu stecken und – in aller Regel des Rituals mit einem Streichholz – zu entzünden, den Rauch auf der Zunge und dem Gaumen zu schmecken und so, rauchend, den Film überdenkend, meinen Weg zum Lindele durch die von Straßenlaternen, Wohnungs- und Schaufenstern und Autolichtern aufgehellte Stadt hinter mich zu bringen. Selten zündete ich mir einen zweiten Glimmstengel an. Und nach manchen Kinobesuchen auch gar keinen; weil ich kein Geld für eine Schachtel oder auch gar kein Bedürfnis nach dem Rauchen hatte. Jedes Ritual gewinnt ja durch Unterbrechungen.
- Erst das übliche Grau, mittags, nachmittags Sonnenlicht, das zunächst nur als eine hauchzarte Schicht über den Gebilden der Topographie lag.
1. November 2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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