28
Okt

28.10.2002

Ich stecke wieder in den späten Siebzigern fest; was soll geschrieben werden? Als die späten Siebziger noch real waren, steckte ich auch in ihnen fest; hatte ich jedenfalls das feeling. Ich machte meinen Aushilfsjob im Kino, schrieb ein bißchen vor mich hin; erotische Anläufe waren ins Leere geraten; meiner Mutter ging es körperlich und psychisch nicht sehr gut; meine eigenen Depressionen waren auch nicht ohne; ich hielt mich an Wein und Whisky. Mein Alkoholkonsum fiel manchen Leuten allmählich auf die Nerven. Bernhard K., mit dem ich nach wie vor befreundet war, sagte eines Abends im Juli `79: „Ich toleriere es nicht mehr!“ Nun, das schreckte mich nicht. Vom Freitag, dem 13. Juli, bis Montag, dem 24. Dezember 1979, kritzelte ich, nicht jede Nacht, ein paar Notate auf Din-A-4-Schreibpapier; die ich in einem der Archivkoffer entdeckt habe, den ich hervorgezogen habe, um dieses Jahr `79, das in mir nur mit Erinnerungsfragmenten und zerrissenen Bildern existiert, zusammen mit anderen zerfaserten Speicherinhalten bruchstückhaft zu rekonstruieren; und schon dieses Wort ist nicht richtig dafür. Sei’s drum: hier einige dieser Notizen vom Herbst `79.

[Aus den Archivalien:]
- So., 28.10.: „A.H.“ Simca, Bernie, Christ. /Frau Müller letzter Tag im Kino (nach 19 Jahren) K. > Erinnerung 60-Jahre
- Di., 30.10.: Essen (Pizza) B., Simca, Christ., K.
- Do., 1.11.: Essen (Froschschenkel) in Sulmingen; B., Simca, Christ., Thomas G.; Elian, Gerd, K.; „A.H.“ / Protokoll Seminar
- Fr., 2.11.: „A.H.“; B.; „Filmtheater“: Tolkien-Verf. „Herr ...“/ Protok.
- Sa.; 3.11.: „A.H.“; B. > „Sternchen“; das Paar aus Bayern / Protok.
der Kleine bis ca. 3.30 h
- So., 4.11.: „A.H.“; Kemper + Fr.; B. + Chr.; nachts Heimgang (Vollmond, Wolkenfelder, Wind)
- Mo., 5.11.: „A.H.“: Volker W., nachm.: der Blonde (Bus)
- Di., 6.11.: „A.H.“; F. Herzl + Fr., Kemper / Artikel-Lektüre (NS-Zeit)
Erinnerung > Buchmesse; Speer
- Mi., 7.11.: „A.H.“; „T.F.“; Rainer
...

Am Sonntagabend, 28.10., beschäftigte ich mich also nicht mit „A.H.“, Adolf H., noch nicht, sondern ich hielt mich im „Alten Haus“, der Kneipe in der Kolpingstraße, auf, und traf dort Simca, Bernhard K. und seine Freundin Christina an. Simca kannte ich seit ersten siebziger Jahren; sie bewegte sich damals eher an der Peripherie der linken Kleinstadtszene, sie war mir immer sympathisch gewesen, und im Jahr `79 war sie doch längst aus Biberach in eine Universitätsstadt geflohen? Vermutlich war sie für ein paar Tage auf den Galgenberg, den vorderen Bereich des Stadtteils Mittelberg, nachhause gekommen. – Frau Müller hatte in den sechziger und siebziger Jahren im Kassenhäuschen des „Urania“-Kinos gesessen; schon in fortgeschrittenem Alter; weil ich so oft ins Kino gegangen war, hatte sie mich, wenn ich meine Eintrittskarte bezahlte, mit der Zeit wiedererkannt und durch das runde Loch in der Glasscheibe des Kassenräumchens hatten wir dann einige launige Bemerkungen, mein Kinogehertum betreffend – „Sie sind ja schon wieder hier!“ „Was bleibt mir anderes übrig, wenn ich den Film sehen muß.“ – gewechselt. Später, als ich im Kino arbeitete, kam sie regelmäßig zu den Weihnachtsfeiern, die an einem der vorweihnachtlichen Abende im „Sternchen“ stattfanden (dieses Kino war dann geschlossen), bis sie in den neunziger Jahren starb.
Am Dienstag, den 30. Oktober, waren offensichtlich Bernhard, Christina, Simca und ich zum Pizzaessen ausgegangen. Ich hatte wohl am Abend keine Filmvorführung zu bestreiten.
Zwei Tage darauf lud Gerd M., Elians Lebensabschnittspartner, die Erwähnten zum Froschschenkelessen ein. „Protokoll Seminar“ bedeutetet, daß ich in jenen Tagen das erste Seminar zur Propaganda im nationalsozialistischen Film, die Diskussion nach dem jeweils abends im „Urania“ gezeigten Film, protokollierte. Peter Uhlig vom Filmreferat der Landeszentrale für politische Bildung hatte mir diese Aufgabe übertragen. Moderiert wurde dieses Seminar von Dr. Albrecht vom Deutschen Filminstitut: ein mittelgroßer Mann, etwas füllig, mit dunklem Vollbart und großer Brille, dessen Leidenschaft dem trockenen französischen Weißwein galt und der sich immer ein Glas im „Sternchen“ füllen ließ und mit in den Saal nahm, bevor er die Diskussion eröffnete. „Jud Süß“ von Veit Harlan war einer dieser Filme. Natürlich führte ich diese Filme auch vor; auch vormittags schon, wenn die Schülerklassen im Kino eintrafen, legte ich die erste Spule in einen der beiden Projektoren ein. Dr. A. nahm sich das volle Weißweinglas (vormittags wurde das „Sternchen“, wie wir uns erinnern, als Café geführt) und ging dann hinunter. Nach der Vorführung am Abend ging ich hinunter in den Saal, wo ich mich in die hinterste Reihe setzte und Notizblock und grünen Stift hervorholte. Ich tat es für Geld, das nach Ablieferung des auf der IBM getippten, etliche Seiten umfassenden Manuskripts vom Filmreferat auf mein Konto floß. Danach saß ich im „Alten Haus“.
Am nächsten Tag protokollierte ich wieder. Im „Filmtheater“ lief der Zeichentrickfilm „Herr der Ringe“. Weinkonsum im „A.H.“. Am Samstag, den 3.11.`79, hockte ich unverdrossen einmal mehr in dieser düster-schummrigen Kneipe, die meistens rappelvoll war. Vermutlich mit Bernhard K. und Marlies und Ernst, dem „Paar aus Bayern“. Vermutlich hatten sie sich einen Kinofilm angesehen, und nach meiner Protokolltätigkeit war ich mit ihnen vom „Sternchen“ hinüber in die nicht weit entfernte Gaststätte gegangen, von wo aus wir zurück ins „Sternchen“ gingen, wo wir bis halb vier Uhr morgens diskutierten, tranken, uns über Rockmusik und Jazz austauschten. Irgendwann dazwischen, im „A.H.“ wohl, tauchte dann ein ominöser „Kleiner“ auf, der meine vorübergleitende Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben mußte.
Es konnte ja nicht anders sein: am Sonntag Abend Filmvorführerarbeit (wahrscheinlich), dann – das dreitägige Seminar war beendet, Dr. Albrecht nach Wiesbaden abgereist – ins „Alte Haus“ gegangen, dort saßen Gerd K. und seine junge Frau, der jüngste Fabrikantensohn B. und seine kleine (im Wuchs) Freundin. Ich vermute, ich ging erst, als die Kneipe schloß, vollgesogen mit württembergischem Rotwein, und vielleicht einem Whisky dazwischen, hinauf zum Hühnerfeld, durch’s nächtlich-stille Biberach, wahrscheinlich war ich gefrustet, aber nicht so sehr, daß ich den Nachthimmel und die Nachtstimmung nicht in poetischer Sensibilität wahrgenommen hätte. Volker W., der am Tag danach a.a.O. ebenfalls, so darf ich denken, saß, stand, wie auch immer, war drei Jahre zuvor der hübsche Sechzehnjährige – wirklich bildhübsche! - gewesen, der mir bei der Gründung des Jazzclubs, der übrigens `79 ein wenig eingeschlafen schien, aufgefallen war und den ich, so blöde kann man sein, auch sehr wahrscheinlich am Montag, den 5.11., nicht ansprach, von einem der Tische nur hin und wieder fixierte. (Im Jahr 1984 sprach er mich im „Storchen“ an, er lebe in Berlin-Kreuzberg und schreibe Hörspiele. Er gab mir sogar seine Anschrift; ich vergammelte sie. O Idiot, der ich war!) Schon nachmittags hatte ich an jenem Tag Anfang November im Stadtbus eine erotische Anfechtung – niedergerungen.
Die obligatorische Einkehr i.a.O. hatte die Begegnung und die Plauderei mit dem Jazz- und Bluesmusiker Fritz Herzl und seiner Frau Angelika zur Folge. Er breit, mit langem schwarzem Haar, sie hoch gewachsen, schlank, eine sanfte Schönheit. Sie war Künstlerin. Beide hielten sich in den Achtzigern und Neunzigern häufig für längere Zeit in L.A. auf; er fand Anschluß an die musikalische Szene, sie als Malerin Erfolg. Alles das wußten sie am Dienstag, dem 6.11. `79, noch nicht. (Im Sommer 2001 starb Angelika H..; zwischen den Weihnachtstagen und dem neuen Jahr 1998/1999 waren Valérie und ich bei ihnen eingeladen gewesen. Ich war bestürzt, als ich von Freunden die Nachricht von ihrem Tod erfuhr. Aber auch Gerd K. war wieder anwesend. In einem jener Nächte muß es gewesen sein, als er mir den Tip gab, in Berlin gebe es eine sehr informative Stadtzeitung, „Tip“ heiße sie, in der regelmäßig die neu ins Kino gelangenden Filme besprochen würden. Es dauerte aber noch, bis `80 oder `81, bis ich mir dieses Magazin in einem Zeitschriftenladen an der Kirche, der tatsächlich dieses Heft im Sortiment hatte, regelmäßig holte. Die Lektüre eines Artikels über die NS-Zeit – ein Jahr zuvor, als das Seminar über die NS-Propaganda im Film zum ersten Mal gehalten worden war, hatte ic einen Artikel für’s Lokalblatt verfaßt – erinnerte mich dann an die Buchmesse ´74, wo ich Albert Speer, der samt Entourage – er hatte Memoiren geschrieben – durch einen Gang eilen gesehen hatte. „Nicht zu fassen“, hatte ich, wie ich mich gut erinnere, gedacht, „jetzt sehe ich noch einen echten Obernazi, Hitlers Architekten!“
Und am Mittwoch ging ich vom „Alten Haus“ spätabends, frühnachts, in die Diskothek „Take Five“ in der Innenstadt, neben der Gymnasiumsstrasse, noch einen Drink oder zwei zu mir zu nehmen, und dort sah ich jenen hübschen Langhaarigen vor mir, der mir fünf Jahre früher in der Spielhalle am Marktplatz so gut gefallen hatte. Er war noch immer gut aussehend, aber etwas an ihm, denn freilich beobachtete ich ihn heimlich, fehlte jetzt. Die Aura einer siebzehnjährigen Jugend?
- Hellblauer Himmel, Sonnenschein, dazwischen Regengüsse in stürmischen Böen.
28.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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