19.10.2002
Am 17. Und 18. Oktober geschah im Jahr danach die Tragödie des Deutschen Herbstes. Von den voluntaristischen Terrorakten hatte ich nie etwas gehalten, auch kam im Frühjahr 1977 bei mir keine „klammheimliche Freude“ auf, als der Generalbundesanwalt Buback und seine Leibwächter ermordet worden waren. Ich hatte immer argumentiert, daß die verbrecherischen Methoden dieser Mordkommandos einer selbsternannten „Stadtguerilla“ gegen das „Schweinesystem“ allen ernsthaften linken Anstrengungen, das kapitalistische Gesellschafts- und Herrschaftssystem zu analysieren, zu kritisieren und aus dieser Kritik heraus geeignete langfristige Strategien zur Veränderung dieses „Systems“, möglichst auf unblutige Weise, zu entwickeln, kontraproduktiv zuwiderliefen. Von Jahr zu Jahr wurde in jener Zeit seit 1970 das repressive Instrumentarium von Justiz und Exekutive, als Reaktions-Gegenbewegung zum errungenen Freiheitsgefühl, das bei vielen jungen Leuten die Grundstimmung der Zeit bildete, erweitert, Bürgerrechte (die vor der APO dem deutschen Michel kaum bewußt gewesen waren) wurden geschmälert. Von hysterisierten Politikern und Beamten und von den Presseerzeugnissen wiederum des Axel Cäsar Springer wurden „Sympathisanten des Terrors“, darunter Heinrich Böll, ausgespäht, wenn nicht sofort zum Abschuß (durch die aufmarschierte Staatsmacht) freigegeben. Das kleinbürgerlich-dämliche „Volk“ wurde wieder einmal in Stimmung gebracht, jenes Volk, das aus Ausbeutung und Unterdrückung und Entfremdung zu erlösen Befreier aller sozialistischen Couleurs auf ihre Paniere geschrieben hatten, das nun jedoch durch diese Mordtaten einiger durchgeknallter halbintellektueller Abenteurer (und ganz ausnehmen kann man auch Ulrike Meinhof hier nicht), die aus der Moralfalle, die ihnen auch christliche Erziehung und das in ihr implantierte Gerechtigkeitsdenken gestellt hatten, nicht mehr herausfanden, und Fanale setzen wollten, doch für wen, durchweg auf der Seite des „Systems“ stand. Das Gegenteil vom Erhofften wurde zementiert. Alle Rechten, die sich seit 1968 mit Wutschaum vorm Maul vom Zeitgeist bedrängt gesehen hatten, nahmen diese traurigen Gelegenheiten nun umso begieriger wahr, um ihre Versionen – Visionen erlaubten sie sich ja nicht – ihrer FDGO, ihrer Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung, wieder zurecht- und zurückzurücken. Der 18. Oktober 1977 war die Zäsur in den siebziger Jahren. – Am frühen Abend des 19. saß ich in der Dachgeschoßkammer, die Günter Rehm in der Karpfengasse 24 gemietet hatte, in der nicht viel mehr stand und lag als ein kleines Fernsehgerät, eine Matraze, eine Lampe und etlicher Krimskrams, auf einem der beiden Stühle und sah die Abendnachrichten, sah den toten Mann im Kofferraum liegen (sah ich das wirklich, oder waren es andere Bilder?) und empfand weder Mitleid noch Haß für diesen Toten, der als lebender SS-Mann an der Ausbeutung der Menschen des Reichsprotektorats Böhmen-Mähren beteiligt gewesen war und – als „Arbeitgeberpräsident“ einer Demokratie – die Erfordernisse seiner gesellschaftlichen Klasse knallhart vertreten hatte; auch dieser Tod ließ mich unberührt, ich bedauerte den kontraproduktiven Effekt, der sich daraus ergab. War ich so herzkalt, war ich, eingedenk der Verbrechen, auf denen der Kapitalismus fußt, wie der Verfasser des „Kapitals“ sehr anschaulich in diesem Buch darstellt, so abgestumpft, daß dieser Mord mich nicht in der Erziehungstiefe der christlichen Moral erschauern ließ? Daß die linke „Sache“ auch wegen solcher Sinnlosigkeit verschwand, hatte ich längst mit Achselzucken beobachtet und mit einem letzten Widerstand, der sich noch bemerkbar machte, hingenommen. All die sogenannten „Kämpfe“ waren mir gleichgültig geworden, auch die merkwürdigen Tode von Stammheim, einen Tag vor der Entdeckung der Schleyer-Leiche, konnten daran nichts ändern, und Baader hatte ich für einen aufgeblasenen Rabauken mit Robin Hood-Allüren, dem es an theoretischer Kompetenz mangelte, gehalten, die Ensslin war mir eh unsympathisch; nur um Jan-Carl Raspe, den intellektuellen Menschen, war es wirklich schade. Aber wieso dachte ich das, ich kannte doch von seinem Leben gar nichts. Noch immer aber, trotz meiner prinzipiellen Geringschätzung dieser wirrköpfigen „Bande“, die sich heillos in die Ausweglosigkeit manövriert hatte – und das kann auch dem Unpolitischsten geschehen – bleibt die Frage unbeantwortet: Wie kam der Sand in Baaders Schuhe?
- Vormittags grau, am Nachmittag fiel Sonnenlicht ins Zimmer, kein Regen, niedrige Temperaturen.
19.10.2002
- Vormittags grau, am Nachmittag fiel Sonnenlicht ins Zimmer, kein Regen, niedrige Temperaturen.
19.10.2002
19.10.