15
Okt

15.10.2002

Daß ich in Stuttgart studieren wollte, hatte noch zwei Gründe, die sich gegenseitig unterstützten: Großstadt und Bekannte. Zudem war S. eine mir nicht ganz fremde Großstadt. Drei- oder viermal hatte ich mich, und war es auch nur für einen Tag oder zwei, in den Angelegenheiten der SDAJ und der DKP dort aufgehalten, vornehmlich in einem Veranstaltungshaus in Sillenbuch, wo Tagungen und Sitzungen stattgefunden hatten, und irgendwo hatte ich auch einmal übernachtet. Die Universität nach solchen Kriterien auszusuchen war bestimmt ein Fehler gewesen. Ich hätte nach Berlin ans Otto-Suhr-Institut gehen sollen, mein Leben wäre anders geworden. Wie? Dort hätte ich linke Theorien haben können. Wäre ich dann nicht erst recht übersättigt gewesen? Berlin hatte aber in meinem Bewußtsein noch zu weit weg gelegen, nie hatte ich ernsthaft erwogen, dort zu studieren, mich dort auf Jahre niederzulassen. Ich hing noch an den Biberacher Zuständen, ob ich es wollte oder nicht. Und mein Unbehagen an der Stuttgarter Situation verstärkte sich nach dem Beginn des neuen, des dritten Semesters in der Mitte des Oktobers von Tag zu Tag. Ich studierte nicht, ich war eingeschrieben. Ich hatte kein Interesse daran, später einer jener angekauften Intelligenzler zu sein, die mit ihren Legitimitäts- und Bereinigungstheorien an den Symptomen einer grundsätzlich falsch organisierten Gesellschaft herumanalysieren und höchstens den Verfeinerungen der Unterdrückungsmethoden noch zuarbeiten. Ich wollte kein glatter Technokrat werden, sondern mein Leben als einen widerständigen Akt spielen; wollte auch nicht – die Gefahr war nicht zu unterschätzen – unbeachtet im Betreib, im akademischen oder sonstigen Einerlei verschwinden. Auch gestand ich niemandem zu, über mich und meine Fähigkeiten, meine Überzeugungen, urteilen zu dürfen. Ich wollte mich nicht einfügen, auch nicht als „linker Intelektueller“. Ich wollte frei sein. Ich wollte auch keinen Beruf haben müssen. Und ich wollte mich nicht mehr verpflichtet fühlen, die Welt vom Joch der Ungerechtigkeit und der allgemeinen Dummheit erlösen zu sollen. Was ging’s mich an, wenn die Deppen es nie begriffen? Ich war ganz schön hochmütig. Ich wollte frei sein und wurde es, als ich zurück nach Biberach ging, an einem Tag im späten Oktober 1975, als das Sonnenlicht die Stuttgarter Hänge mit goldenem Glanz überzog, dann erst recht nicht. Zunächst aber schon. Ich schmiß alles hin: Studiererei, Politik, Science Fiction. Schlußstrich; Zäsur.
- Unfreundlicher Tag, naßkalt, mit Nieselregen, düster.
15.10.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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