8.10.2002
Frau H. empfing mich herzlich wie immer und bei Kaffee und Zopfbrot mit Butter saßen wir in ihrem Wohnzimmer, in dem, sie machte mich beiläufig darauf aufmerksam, eine neue Sofa- und Sessel-Garnitur stand – man sagt doch „Garnitur“? – , wegen des besseren aufrechteren Sitzens, wegen „des Kreuzes“. Wir redeten über die sechziger Jahre, über meine Mutter und ihre manchmal uneindeutigen Verhaltensweisen, aus denen sie noch etwas wie „Glück“ zu ziehen versuchte, über meine Ablehnung verschiedener Personen, die bei uns mit einiger Regelmäßigkeit zu Gast bei den Festivitäten oder auch an gewöhnlichen Tagen waren. „Als du dreizehn warscht, hat dich deine Mutter oft recht streng behandelt“, sagte Frau H. im schwäbischen Dialekt einer bestimmten Gegend hinter Biberach nach Riedlingen zu (eines der dort zwischen den Feldern ruhenden Dörfer war ihr Heimatort), „und ich hab zu ihr gesagt, wenn du dich noch lang so zum Klaus benimmst, dann kann es gut sein, daß er noch zu seinem Vater zieht.“ Ich hatte keine Ahnung mehr davon. „Das würde er mir nie antun!“, habe meine Mutter, sagte Frau H., ausgerufen, „und ich hab ihr gesagt, du weißt vielleicht nicht, was Kinder so tun können.“ Natürlich wäre ich nie in den Hagenbucher Weg gezogen. Diese Spanne Zeit, die nicht lange gewährt haben dürfte, habe ich erfolgreich verdrängt und wahrscheinlich maß ich solchen Anwandlungen meiner Mutter auch nicht sehr große Bedeutung zu; war ich nur wieder sehr rücksichtsvoll gewesen; oder auch nur gleichgültig? Oder hatte ich dieses Verhalten gar nicht bemerkt? Nicht ernst genommen, vermutlich. Frau H. erzählte von den Verhältnissen, in denen ihre – mir gleichaltrigen – Kinder und deren Kinder leben. Eine ganz andere Art und Weise, das Leben zu bewältigen und zu führen erst einmal tat sich mir immer auf, wenn sie von diesen Sorgen und Nöten berichtete. Nicht, daß sie mir ganz fremd gewesen wären oder seien, doch erkannte ich an diesen Lebensentwürfen und -gestaltungen, wie ruhig und fast privilegiert ich die Monate und Jahre nach meinem Abschied von den Filmtheaterbetrieben K., in Biberach zunächst noch, dann in Berlin, zubrachte, wenn ich, was mir zuweilen gelingt, von den kleinen Krebstumoren – hoffentlich wieder kleiner als im August! – absehe; – und der Krebs verschafft mir seit zweieinhalb Jahren diesen relaxten, hin und wieder von den Nebenwirkungen der Chemotherapie gestörten Lebensstil, sonst hätte ich unter Umständen, an die ich gar nicht denken mag, gewisse Schwierigkeiten, mir die Zumutungen bestimmter Ämter vom Leib und vom Bewußtsein zu halten; und trüge ich keine ausgeflippten Zellen – ich habe manche Überlegung angestellt, warum sie sich so krank verhalten – mit mir herum, hätte ich, gut genug kenne ich mich, diese Aufzeichnungen nie begonnen. – Nach einer Stunde verließ ich Frau H. und ihre Wohnung, in der ich mich als Kind und Jugendlicher der sechziger Jahre viele Stunden aufgehalten hatte (sogar für einige Tage übernachtet hatte, als meine Mutter auf Reisen gewesen war und mir nicht zugetraut hatte, allein in unserer Wohnung zurechtzukommen, als ich eben schon dreizehn Jahre alt gewesen war; wenn sie sich dann manchmal in späterer Zeit für ein paar Wochen Abwesenheiten vom Alltag genommen hatte, wozu auch die Zeit vor und nach der Operation, die sie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre über sich ergehen lassen mußte, gehörte, war das anders geworden), spazierte über den Gigelberg und die Schillerhöhe zum Stadtkern hinab. Ich drückte mich für einige halbe Stunden im „Weichardt“ an der Wielandstraße herum und erinnerte im sinkenden Nachmittag verschattete Szenen, wie Freunde und ich in den frühen siebziger Jahren hier Becks Bier zu uns genommen hatten; die Einrichtung des Cafés war damals gar nicht so sehr verschieden von der gegenwärtigen gewesen; ich sinnierte zum Fenster hinaus. Dann war ich mit dem Kunstmaler Heilig in der neuen Wohnung mit Atelier in der Nähe des „Insel“-Buchgeschäfts verabredet. In drei Stunden sprachen wir über die Aktionen während und nach der APO-Zeit in Biberach und über seine Kunstauffassungen, über den unvollständigen und in manchen Aspekten auch, soweit sie H. berühren, falsche Auskünfte vermittelnden, erst kürzlich erschienenen Katalog zur Kunst in der Stadt, die in ausgewählten Exponaten nicht nur lokal relevanter Künstler im Braith-Mali-Museum hängt. Im letzten Jahr hatte ich einen Artikel über die E.L.Kirchner-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie für das heimische Blatt geliefert, den ich aber nicht zitiere, weil man ihn mir – man müsse ja keinen kunsthistorischen Abriß schreiben, hatte der Redakteur D. mir im Telefonhörer gesagt – zusammengestrichen hatte; in der Stadt an der Riß lebt der letzte Verwandte des Expressionisten. Nach dem anregenden Gespräch hockte ich wieder im oben erwähnten Lokal, dessen Stühle und Sitzreihen, die meisten schon unbewohnt, auf Mitternacht und das allmähliche Verschwinden der späten Sitzer warteten, mit Ralph H. zusammen. Er gab eine lustige Geschichte zum besten, in der auch eine ansässige Firma eine nicht sehr erfolgreiche Rolle spielte; ein gerissener, leider windiger Amerikaner hatte über ein Jahrzehnt hinweg mit einem nie klinisch erprobten Mittelchen zur Krebsbekämpfung und dessen unermüdlicher Propagierung diversen Großfirmen diverse Milliönchen aus den Etats gezogen und war, als die Aktien sanken, mit ihnen untergegangen.
- Uneinheitliches Wetter, meistens unfreundlich.
8.10.2002
- Uneinheitliches Wetter, meistens unfreundlich.
8.10.2002
08.10.