7.10.2002
29.9. – Nach einem Telefonat am Sonntagvormittag mit Schmidt stand ich im fast noch wärmenden Sonnenschein vor dem Haus der Dres. – sie befanden sich für zwei Tage tagsüber auf einer Fortbildungsveranstaltung – und sah hinauf in das von Wolken freie Blau der Atmosphäre, in der von Norden und von Süden langsam in großer Höhe heran fliegende Jets ihre Kondensstreifen hinter sich herzogen und unter der Sonne, die wirklich gewärmt hätte, wäre der kalte Wind nicht durch den Tag gereist, zu anderen Ländern zogen. Einen der Jets, der – um wieviel hundert Meter? – niedriger flog als die anderen, erkannte ich in seiner Form sehr deutlich: ein vielleicht fünf Zentimeter kleines, silbern glänzendes Ding, das selbst als Spielzeug zu klein erschien. Schmidt fuhr heran, ich stieg ein ins Auto, wir fuhren in die Stadt. In der Stadt ging er vom Auto, für das er in der Weberberggasse wieder einmal einen Parkplatz gefunden hatte, zunächst in die Wohnung, ich zum Café „Vienna“. Der Marktplatz, das lang gezogene Oval, lag leer und weit, hell ausgeleuchtet vom Licht des gelben Sterns, menschenleer fast, nur an seinem Rand, vor einer Apotheke, die jedoch vermutlich keinen Sonntagsdienst anbot, stand eine palavernde Gruppe von Bürgern Biberachs, Angehörige eines südosteuropäischen Volkes, Türken genannt. Eine eigentümliche Empfindung ergriff Besitz von meinem Bewußtsein, wenn auch nicht vom ganzen: so leer und weit (und ländlich), wie dieser Marktplatz – eine falsche Piazza, denn seine der Kirche zugewandte Hälfte war vor einem Jahr oder zweien mit hellen Steinen gepflastert worden, etliche Stühle standen verloren auf ihr wie ein Bühnenarrangement aus Becketts Stücken herum, auf die sich zu späterer Stunde Leute setzen würden, en attendent Godot oder sonstwen – in diesem Sonntagmittag vor mir lag, so weit und doch leer schien sich meine Vergangenheit, die ich in dieser Stadt doch hatte, in mir zu erstrecken, und ein kleines Staunen kam zu dieser Empfindung hinzu; es betraf den Vorgang des kaum merklichen Abrückens der Stadt von mir. „I’m a stranger here myself“, hätte ich einem der Türken sagen können. Hätte er mich verstanden? Ich stand auf dem Platz und sah das quirlige Treiben auf ihm vor fünfundzwanzig und dreißig Jahren vor mir, den Autoverkehr aus den und in die Seitenstraßen, die auf dem Platz mündeten und von ihm wegstrebten, das Durcheinander der hastenden oder gemächlich voranschreitenden Bewohner jener Zeit, die bunte jugendliche, langhaarige, hippieverdächtige Schar der „Marktbrunnenhocker“, die auf dem breiten Steinrand des Brunnens mit dem Ritter in seiner Mitte lagerten und um ihn herum (auch Klaus Leupolz, gelb und rot gewandet, zählte trotz seiner vierzig Jahre dazu); nun war dies Herz der Stadt verödet, und ich wußte von meinen Spaziergängen am Tag vorher und von denen im Sommer, daß sich der Ort auch in Wochentagen weniger belebt als früher zeigt. Etwas von dieser Verödung schlich sich auch in mein Herz ein. M. kam ins „Vienna“, um mir Gesellschaft zu leisten, wir saßen herum, viel zu bereden gab es ja nicht. Ich dachte, zum Essen gehen zu sollen in eine der Gastwirtschaften, doch in welche? Stattdessen kaufte ich auf dem Weg zu Manfreds Wohnung in einem Bäckereigeschäft, das Sonntags geöffnet hat, zwei Laugenbrezeln und ein süßes Stückchen. Ich knabberte an einer der Brezeln. Nur die Biberacher Laugenbrezeln haben jenen Geschmack, der einzig allein mir behagt, auch die richtige Konsistenz; anderenorts, auch in Berlin, werden Laugenbrezeln verkauft, aber sie schmecken nicht so gut wie die in Biberach hergestellten, und das hat mit Lokalpatriotismus nichts zu tun, aber mit der Konditionierung der Geschmacksknospen der Zunge seit den Kindertagen. „Wir fahren noch einmal zum Arndt“, sagte Schmidt vor dem Haus, in dem er wohnt, er ging hinein, holte seinen Fotokoffer. Wir fuhren die Strecke nach Schemmerhofen, einmal mehr zu Arndts, wo M. fotografierte, während ich hin und her ein paar Schritte ging, außer dem Hausherren war niemand auf dem Platz, er stellte Bilder auf den blauen Metallträger (denn als solcher setzte sich das Teil auf der Retina fest, obwohl ich nicht sicher bin, daß es ein Träger für irgendetwas war, es war nur lang und blau und bestimmt sehr schwer), die der nächtliche oder frühmorgendliche Wind herabgeblasen hatte. Ich wechselte Worte mit A. und M. – sie kannten sich ebenso lange wie ich beide kannte – und bat M., von diesen und jenen Bildern Aufnahmen anzufertigen, womöglich könne ich die einmal für eine zu bastelnde Website brauchen. Schmidt ließ sich nie gern sagen, was er zu fotografieren habe und äußerte sich wieder dementsprechend sarkastisch, lichtete aber die Bilder ab. Allmählich traten Neugierige auf den Hof, Autos fuhren heran, aus denen Leute stiegen. Schmidt und ich verabschiedeten uns. Schmidt fuhr übers Land, durch einen lichtüberströmten Tag, der die oberschwäbischen Felder, Wälder, Dörfer der Umgegend von Biberach in spätsommerlich-frühherbstliche Farben setzte, in diese Variationen von Gelb, Hell- und Dunkelbraun und dunkles Grün, die in sanft gewellter Landschaft ausgebreitet liegen und die Große Kreisstadt umschließen. Ich ließ mir die Fahrt gern gefallen, die zum Gutershofer Weiher in der Richtung nach Westen ging, wo Schmidt mich in der Natur, träumerisch meinen Blick, althergebrachte Pose, über die der Verlandung sich nähernden Ufer gleiten lassend, fotografieren wollte. „Nun ja, ein Dokument mehr für die Zukünftigen“, dachte ich. Und so, eine Hand an den Baum gelehnt, stand ich dann im schwarzen Mantel auch am Weiher, über den die Sonne blitzende Funken streute. Schon einmal war ich hier gewesen, an einer anderen Stelle, in den Siebzigern, als Bekannte aus der „Szene“ am Ufer für einen Nachmittag und Abend kampiert hatten, nackt oder halb nackt, vor den Ufergestrüppen und den Binsenkolben, die aus dem Schilf geragt hatten; aber mir hatte diese Naturseeligkeit nicht gefallen, das verspätete Hippiegetue war nicht nach meinem Geschmack gewesen, außerdem hatten mir die großen Schnaken, „Bremsen“ genannt, die auf die Häute niedergesunken waren und Blut gesaugt hatten, erheblich mißfallen und ich hatte jemanden gebeten, mich zurück in die Stadt mitzunehmen. Daran dachte ich, als Schmidt seinen Fotokoffer in den Kofferraum legte und es nach Biberach ging. Vor der Kreuzung der Gaisentalstraße mit dem Krummen beziehungsweise Grünen Weg stieg ich aus. „Wir werden uns wohl dieses Jahr noch einmal sehen“, sagte ich, denn Schmidt beabsichtigte, im Herbst Berlin zu besuchen, und ging hinüber, während Schmidts Auto die Gaisentalstraße hinunterrollte, zur Wohnung von Frau H., die mich 1952 aus dem Schnee im Garten des Lindelestraßenhauses aufgenommen hatte.
Grau und Regen rieselte gelegentlich herab.
7.10.2002
Grau und Regen rieselte gelegentlich herab.
7.10.2002
07.10.