21
Sep

21.9.2002

Das Mädchen schlief, wachte in den Reisepausen auf, die auf zwei Rasthöfen zugebracht wurden. Auch ich blieb eher mundfaul. Wir näherten uns Berlin und hörten im Radio von der gescheiterten Bewerbung Berlins um die Austragung der Olympischen Spiele und ich fragte mich, welche nationalistischen Ausschreitungen sich am Abend zu unserer Ankunftszeit abspielen würden. Am U-Bahnhof Alt-Mariendorf hielt das Auto an, mit steif gesessenen Beinen kletterte ich heraus, folgte dem Pseudopunkmädchen in die U-Bahn, mit der wir zum Bahnhof Friedrichstraße fuhren. Wir stiegen aus, sie huschte davon, ich stieg eine Treppe zu einem Ausgang hinauf und stand auf der Friedrichstraße vor dem alten ruinierten Metropol-Theater, dem Admiralspalast besser gesagt (wie das Gebäude genannt wird, erfuhr ich erst viel später). Ich orientierte mich erst einmal, die Straße sah seltsam heruntergekommen aus. Ost-Berlin. Vom „Tränenpalast“ hatte ich gelesen; ich dachte in dieser Minute, er müsse irgendwo im Bahnhof integriert sein; die alte DDR-Abfertigungshalle. Dabei befand ich genau vor ihm. Ich sah ihn nicht. Ich betrat den Bahnhof, dessen muffige Ausdünstung mich anflog und stieg oben in einen alten kastenförmigen S-Bahnwagen ein; der rote Zug rumpelte davon. Im Bahnhof Alexanderplatz verließ ich das Gefährt, das mir ungeheuer berlinerisch vorkam, ging mit dem Köfferchen hinunter. Schmutzig-beige Fliesen überall, es roch ostig. Dieser Geruch war für mich ein ostiger; obwohl ich den Geruch des Ostens noch gar nicht kannte; meine Augen waren die Umgebung nicht gewöhnt und meine Vorinformationen (und -urteile) wurden bedient. Ich irrte nach links, kam auf einen mir riesig erscheinenden Platz – aha, Berlin Alexanderplatz. Er war öde. Die Dämmerung fiel. Ich irrte zurück in die Länge des Bahnhofs, trat auf der anderen Seite hinaus. Wo war der Weg zum „Scheunenviertel“? Den Turm, der auf dieser Seite ragt, sah ich nicht; vielleicht seinen schwach angeleuchteten unteren Teil für eine unaufmerksame Sekunde. Ich sah die Würstchenbude und die jungen Männer mit den Glatzen vor ihr, die wahrscheinlich Bock- oder Currywürste mampften. Ich ging, mit meinen langen Haaren, tapfer draufzu, ohne sie zu beachten und spürte doch, wie sie mich fixierten. Ich ließ mir schnell eine Entgegnung auf einen mögliche Anpöbelung einfallen; nichts geschah. Wie eine „linke Zecke“ sah ich ja wohl aus. In einem Seiteneingang verschwand ich unbehelligt, fand sogar ein Wandtelefon und rief Stefan an, wie ich zur Alten Schönhauser Straße käme. Er beschrieb mir den Weg. Ich marschierte los, fand die Münzstraße, die rechts von ihr verlaufende Alte Schönhauser. Ich sah mich in eine Szenerie aus den zwanziger Jahren versetzt; mit schwarzen Fassaden links und rechts und düster illuminiert lag die Straße in der Abenddunkelheit vor mir; und die Bepflasterung, breite, teils zerbrochene Steinplatten, kleine Pflastersteine, der Sand zwischen ihnen ... – die ganze Unregelmäßigkeit des Gehwegs erforderte ein aufmerksames Gehen, wollte man nicht stolpern. In Biberach waren die Bürgersteige in viel besserem Zustand. Vor einem zurück gesetzten Eingang blieb ich stehen. (Ein Wandtelefon hing da.) Die Hausnummer stimmte. Ich stieß eine alte Tür auf, brachte einen engen Gang hinter mich, ein schachtartiger Hof folgte, in dem allerlei Gerümpel lag und stand, ein Fahrradrest, Mülltonnen; ich öffnete die halb offen stehende zweite Tür zu einem finster sich in den Nachthimmel aufreckenden Gebäude; das sollte bewohnt sein? Ich glaubte mich doch am falschen Ort, kehrte um, ging zurück zum Alexanderplatz, ich irrte mit Köfferchen in einem Gangsterfilm herum (und las ein paar Jahre danach noch einmal Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ und stellte fest, daß in ihm in der Alten Schönhauser der Verbrecherkönig Pimps sein Quartier hat), rief Stefan an. „Ja“, sagte er, „das ist das Haus, oberster Stock, komm rauf!“ Zum zweiten Mal tappte ich durch den unbeleuchteten Hof, stieß, nun etwas ärgerlich, weil ich mich nicht schon beim ersten Mal hineingewagt hatte, die klapprige Tür auf. Aus dem Türspalt am ersten Treppenabsatz glomm Licht hervor und eine auf- und abschwellende, psychedelisch anmutende Musik tönte; ich schlug die Fingerknöchel an die Tür und trat unerschrocken ein. Das junge Pärchen in schwarzen Klamotten, beide schmal, hockte auf einer Matraze und sah uninteressiert auf, als ich plötzlich vor ihm stand und nach Stefan Heidenreich fragte. „Fünfter Stock“, sagte der Typ lahm. Ich dankte und zog die Tür hinter mir zu, stieg hinauf, klingelte – tatsächlich war an einem provisorisch angebrachten Türschild „Heidenreich“ zu erkennen – und folgte dem Rufen, das aus dem Inneren der Behausung drang. Ich fand die Küche, trat ein, Stefan und ein Freund – Gerhard aus Tübingen, wie sich herausstellte – saßen an einem kleinen Holztisch und sahen mir entgegen. Erschöpft ließ ich das Köfferchen sinken. Hatte es mich am Bahnhof Alexanderplatz, vor der Würstchenbude, vor einer Begegnung der unangenehmen Art bewahrt? Vielleicht hatten die Skins ja gedacht: „Ein Tourie mit Köfferchen, der ist nicht aus Kreuzberg, den lassen wir mal laufen.“
- Etwas regnerisch, aber es fielen kaum Tropfen. Graue Wolken in einem blaugrauen Himmel. Später am Tag doch ein wenig Niederschlag.
21.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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