20
Sep

20.9.2002

Ab der Augustmitte im Jahr 1993 – noch immer hatte ich Magenbeschwerden, obwohl die Nacht, in der ich mich heftig erbrochen hatte und danach nie wieder Alkohol zu mir nahm, nach einer Woche, in der ich (zum ersten Mal während meiner bis dahin schon zwölfjährigen Arbeit als Filmvorführer) krank geschrieben war und mich selbst entgiftete, schon Monate hinter mir lag – korrigierte ich meine bis zu diesem Zeitpunkt geschriebenen Gedichte, jedenfalls die Texte, die ich für Gedichte hielt (und doch nicht alle) und setzte diese Tätigkeit im September kontinuierlich fort. „Jetzt oder nie mehr“, so sagte ich mir, „versuche ich es noch einmal mit der Literatur.“ Im September wurde ich zweiundvierzig Jahre alt – was mir sehr eigenartig vorkam – , und was hatte ich vollbracht? In zwanzig und mehr Jahren hatte ich mich damit herumgeplagt, passable Texte, und nicht nur SF- und Westernmanuskripte, zustande zu bringen, und hatte ich einmal eine Geschichte begonnen, die eine längere werden sollte, gab ich die Arbeit an diesen Seiten regelmäßig auf; Fragmente verschiedener Art, auch Hörspiel- und Filmtexte, blieben in den Schreibtischschubladen und im Schrank zurück. Glücklich war ich in allem, was hinter mir lag, nicht geworden. Was lag schon alles hinter mir? Alles nicht des Redens und Schreibens wert. Oft dachte ich so.
Die Gedichte jedenfalls brachte ich in Schuß, wenn ich über die Reparaturarbeiten an diesen vermutlich nicht sehr hehren lyrischen Zeilen salopp berichten darf (und ich als selbstherrlicher Autor darf es), was mir, ich bin mir darüber im klaren, bei den sehr hoch angesiedelten Angehörigen der elitären Zunft kaum Sympathien einbringen dürfte. Sei’s drum! Im September 1993 war ich noch immer damit beschäftigt und genehmigte mir einige Tage Urlaub vom Kino und fuhr nach Berlin. Fünf steile Treppen stieg ich in den fünften Stock im Hinterhaus der Alten Schönhauser 29 zu Stefan Heidenreichs Wohnung hinauf, in die ich mein Lederköfferchen stellte. In Berlin herrschte spätsommerlich schönes Wetter und ich streifte durch die Stadt, in der ich seit November 1990 nicht mehr gewesen war. Im Herbst 1990 war ich zum ersten Mal nach 1963 in Berlin gewesen; und fünfzehn Jahre lang, von Herbst 1975 bis zum Herbst 1990, hatte ich keine Nacht außerhalb Biberachs zugebracht. Ich hatte in der kleinen Stadt wie eingesperrt gelebt. Nun, 1993, sah ich zum ersten Mal Berlins „neue Mitte“: den historischen Teil Berlins, der von 1961 bis 1989 hinter der Mauer grau, fremdartig und unbemerkt von den BRD-Deutschen auf andere Zeiten gewartet hatte. Auf bessere sozialistische umso weniger, je älter die DDR wurde. (Ich muß das eben Geschriebene korrigieren: 1963 war ich ja mit meiner Mutter schon in „Mitte“ gewesen, als ich nicht gewußt hatte, daß dieses alte Zentrum des ehemaligen Großberlins „Mitte“ genannt wird; ich habe doch ein Foto, auf dem ich, vor den Absperrungen vor dem Brandenburger Tor, Unter den Linden in mein braunes Anzüglein gekleidet zu sehen bin. Ich vergaß aber alles, was ich damals in jenen Stunden in Ost-Berlin gesehen hatte.) 1993 fuhr ich mit einem Auto nach Berlin, in das ich mich von der Mitfahrzentrale in Ulm für sechs oder sieben Stunden einquartieren ließ. Reichlich unsinnig begann diese Fahrt: zunächst mußte ich mit dem Zug nach Ravensburg, südlich in Oberschwaben gelegen, fahren und dort am Bahnhof auf das Auto nach Berlin warten, und ich stand dort zwanzig Minuten, bis es vorfuhr und ich einsteigen konnte. Ein junger Mann, der am westlichen Bodensee irgendeine Ausbildung absolvierte, steuerte es, ein anderer Typ und ein Mädchen, halbherzig punkig aufgemacht, fuhren mit. Wir kamen natürlich über Biberach und am sogenannten „Jordanei“ kurvten wir auf die neue B 30, die Schnellstraße nach Ulm. Dann ging’s über die Autobahn nach Crailsheim und, rechts abgebogen, nach Nürnberg, von dort nach Norden. Diese Strecke kannte ich: auch Axel N. und seine aktuelle Freundin, mit denen ich 1990 nach Berlin gefahren war, hatten sie genommen.
- Zunächst sonnig, dann Vertrübung; graue große Wolken waren unterwegs; kein Regen; frisch.
20.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6671 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren