8.9.2002
Zu Beginn des Septembers 1976, einem sonnigen September, wurde in Biberach an der Riß die letzte linke Aktion veranstaltet. Die wurde nicht von der SDAJ-/DKP-Gruppe angeleiert, die es zu dieser Zeit vielleicht auch gar nicht mehr gab, und ich muß das deshalb so schreiben, weil ich seit meiner Rückkehr aus Stuttgart im Herbst des Jahres davor und dem Einzug in die Karpfengasse keine Verbindung mit ihr hatte. (Doch, noch einmal sah ich Genossen von einst, wobei das „einst“ gar nicht so lange zurück lag, aber für mich war dieser Lebensabschnitt klar beendet: Mit Claus M., dem jüngeren Bruder jenes halbgöttlichen Prinz-Eisenherz-Frisur-Jungen, der mir auch gefiel und noch zur Schule ging und mir viele Jahre danach einmal im Kino mit seinen Kindern über den Weg laufen sollte, und wir redeten dann ein paar Minuten miteinander, hockte ich in einem Raum in der Karpfengasse, ein paar Häuser entfernt von meiner Bude, in einer der wöchentlichen Sitzungen – die offenbar doch stattfanden – , in der mir vertraute Gesichter noch anwesend waren, für eine Zeitlang dabei, bis mir das, was gesagt wurde, was beschlossen werden sollte, was ich so und so ähnlich in früheren Jahren selbst so gesagt hatte, doch zu langweilig wurde, und C.M. und ich stahlen uns wieder davon und gingen wie geplant ins Kino.) Ich kann nicht sagen, wann diese „Doppelgruppe“ aufgelöst wurde, wann die letzten Aktivisten einsahen, daß die ganze Chose keinen Sinn mehr abwarf. In der Öffentlichkeit war von der Gruppe nichts mehr zu hören und zu sehen. Aber vielleicht achtete ich auch nur nicht mehr darauf. Ich war mit anderen Problemen, die mein Sexualleben betrafen, vollauf beschäftigt und verspürte grundsätzlich kein Bedürfnis mehr, missionarischer Sektierer zu sein. Die proletarischen Massen hatten keinerlei Interesse für die schönen Ideen und die Überwindung ihrer Entfremdungssituation gezeigt; sollten sie zusehen, wie sie klar kamen. Ich vernahm keine Gewissensrufe wegen meines genießerischen kleinbürgerlichen Spätbohèmelebens. –
Die letzte linke Aktion wurde vom KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, einer seltsamen Vereinigung maoistischer Provenienz, veranstaltet. Im Hauchler-Studio – wir erinnern uns vage, daß seine Existenz mir am Anfang der siebziger Jahre Freunde zugeführt hatte: Manfred S., Falk Ch. B., Gerd K., Gerold A. (der von der Bundeswehr seinen Abschied als Unteroffizier genommen hatte, zur Umschulung nach Biberach geschickt worden war, in Manfreds Agitprop-Singgruppe mitgesungen, im ehemaligen Zimmer von Uli W. gewohnt und nach Abschluß seiner Ausbildung die Stadt verlassen hatte) – lernten 1976 drei Herren die in diesem Institut gepflogenen Erweiterungen der Schwarzen Kunst; einer von ihnen hieß Rolf S., er war der „Chefideologe“ des Drei-Mann-Grüppchens, ein langer dürrer Mensch mit scharfer Nase, der mit einem Mal in Herberts Karpfengassenzimmer saß. In einer Kneipe hatten sie sich wohl gesehen, und unvermittelt wurde Herbert linkspolitisch. Meinen früheren Aktivitäten hatte er nicht viel abgewinnen können. Ich wunderte mich. Die beiden Genossen-Kumpel des Hauchler-Schülers saßen bald auch im Haus. Irgendetwas tat sich. Schließlich hörte ich, daß die Aktion „Freiheit für Zimbabwe“ vorbereitet wurde. Über den KBW hatte ich mich in den Jahren, die hinter mir lagen, nur lustig gemacht, seine politischen Maximen und Doktrinen waren gar zu putzig, und mehr noch traf dies auf den Jargon zu, der dort mit hoher Dosis Emphase und Pathos – einer größeren noch als bei meinen „Orthodoxen“ – abgelassen wurde. (War nicht der jetzige Bundesumweltminister in jener Zeit dort Mitglied?) Ich war nun – wenn überhaupt noch links – „freier Linker“, denn die DKP hatte mich aus ihren Reihen ausgeschlossen (nehme ich an), ich äußerte mich jedoch nicht mit linken Ansichten, ich war auf Abstand zur Weltveränderung gegangen. Ich erklärte mich also zu meiner eigenen kleinen Überraschung bereit, ein paar Handlangerdienste für diese Aktion beizusteuern. Und andere aus dem Freundes- und Szenekreis unserer WG, die mit linker Politik – mit Ausnahme weniger Insassen – nicht eigentlich etwas zu tun hatte, stießen dazu. Nicht weil sie über Nacht links geworden wären, sondern aus jugendlichem Erlebnisdrang. Die Sache war einmal etwas anderes als nur im „Strauß“, im „Rebstock“, im „Schwanenkeller“ zu hocken. An einem milden Samstagvormittag klappte ich mit Markus M. zwei Tapeziertische auf dem Marktplatz aus und das Infomaterial des KBW wurde ausgebreitet. Die ersten Flugblätter gegen das rassistische Regime der weißen Regierung im südafrikanischen Land fanden tatsächlich Abnehmer aus der Passantenschar. Einiges Szenevolk sammelte sich um den Infostand und seine Betreiber an, Grüppchen standen herum, brave Biberacher Bürger verhielten kurz den Schritt und eilten dann weiter, oder ohne kurz zu stutzen, an den „Spinnern“ vorüber. Andere blieben sogar stehen und ließen sich in einen kurzen dialogischen Schlagabtausch verwickeln. In der Nähe des Infostandes war ein quadratisches (oder rundes) Schild auf einer Staffelei aufgebaut, im Schild waren die Konterfeie des weißen Regierungschefs des südafrikanischen Staates (hieß er nicht Smith?) und anderer Reaktionäre aufgeklebt, auf die durften mit handtellergroßen Spielzeugarmbrüstchen (das sollte aber keine Anspielung auf das „Biberschießen“ während des Schützenfestes sein) kleine Pfeile mit Saugnäpfen dran abgeschossen werden. War das nicht richtig militant und revolutionär-gewaltsam? Auch ich Kriegsdienstverweigerer ließ Pfeile losschnellen. Fotos wurden gemacht (auf einem von ihnen ziele ich gerade, angetan mit meiner schwarzen Jacke, und schwarze Hosen trug ich dazu, die sieht man auf diesem Foto aber nicht), von unseren Leuten, von der Polizei. Der „Aufruhr“ war ja vorbei, „68“ halb vergessen; auch die RAF-Terroristen der ersten Generation saßen in Stammheim und anderswo in Einzelhaft hinter Gittern (in meiner Stuttgarter Zeit war ich einmal mit der Straßenbahn am Stammheimer Knast vorüber gefahren). Helmut Schmidts SPD/FDP-Pragmatistenregierung steuerte die Bundesrepublik nach rechts. Wir lebten im Herbst der Rebellion. Auch ich schmetterte das alte KPD-Lied vom Roten Wedding mit der in den ersten siebziger Jahren beliebten neuen Zeile gegen „die Genscherpolizei“ – Genscher war Innenminister – nicht mehr. Am frühen Nachmittag wurden Infostand und Zielscheibe abgebaut und das Transparent mit der kämpferischen „Losung“ kam zusammen gefaltet in einen Karton. Abends spielten zwei zusammen gewürfelte Mannschaften Fußball auf dem Platz oben am Lindele. Wacklig stand der Infostand nebst Scheibe und Losung nun hier am Spielfeldrand. Der Kaffeeausschank – die Einnahmen gingen in den Solidaritätsfond – wurde spärlich frequentiert, die Schriften und Werke zur Revolution – nicht nur die vom Dicken mit der Warze – noch sparsamer gekauft. Wurde etwas verkauft? War nicht mein Bier; das ich aus der Dose süffelte. (Der gepriesene Führer der zimbabwischen Revolution Mugabe entpuppte sich, wie alle Leute solchen Schlages, in den Jahren nach der weißen Regierung als sehr unangenehme Figur und Schwulenfeind; immer, wenn in der Presse etwas über sein Regime erscheint, und ich weiß die bürgerliche Presse nach wie vor richtig zu lesen, erinnere ich mich für zwei Sekunden an jenen Tag im September 1976 und bin froh, daß ich nicht allzu viele Sympathien vergab.) Ich war mit Fotoapparat von der Karpfengasse zum Lindele hinauf gestiegen und hatte das alte Lindelestraßenhaus, das nun saniert war, dem aber seine ockergelbe Farbe gelassen worden war, gesehen. „Vor einem Jahr“, dachte ich, „habe ich hier noch gewohnt.“ Ich fand es doch seltsam, daß ich nun vorbeizugehen hatte.
- Wieder gab es für Berlin einen heißen Sommertag.
8.9.2002
Die letzte linke Aktion wurde vom KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschlands, einer seltsamen Vereinigung maoistischer Provenienz, veranstaltet. Im Hauchler-Studio – wir erinnern uns vage, daß seine Existenz mir am Anfang der siebziger Jahre Freunde zugeführt hatte: Manfred S., Falk Ch. B., Gerd K., Gerold A. (der von der Bundeswehr seinen Abschied als Unteroffizier genommen hatte, zur Umschulung nach Biberach geschickt worden war, in Manfreds Agitprop-Singgruppe mitgesungen, im ehemaligen Zimmer von Uli W. gewohnt und nach Abschluß seiner Ausbildung die Stadt verlassen hatte) – lernten 1976 drei Herren die in diesem Institut gepflogenen Erweiterungen der Schwarzen Kunst; einer von ihnen hieß Rolf S., er war der „Chefideologe“ des Drei-Mann-Grüppchens, ein langer dürrer Mensch mit scharfer Nase, der mit einem Mal in Herberts Karpfengassenzimmer saß. In einer Kneipe hatten sie sich wohl gesehen, und unvermittelt wurde Herbert linkspolitisch. Meinen früheren Aktivitäten hatte er nicht viel abgewinnen können. Ich wunderte mich. Die beiden Genossen-Kumpel des Hauchler-Schülers saßen bald auch im Haus. Irgendetwas tat sich. Schließlich hörte ich, daß die Aktion „Freiheit für Zimbabwe“ vorbereitet wurde. Über den KBW hatte ich mich in den Jahren, die hinter mir lagen, nur lustig gemacht, seine politischen Maximen und Doktrinen waren gar zu putzig, und mehr noch traf dies auf den Jargon zu, der dort mit hoher Dosis Emphase und Pathos – einer größeren noch als bei meinen „Orthodoxen“ – abgelassen wurde. (War nicht der jetzige Bundesumweltminister in jener Zeit dort Mitglied?) Ich war nun – wenn überhaupt noch links – „freier Linker“, denn die DKP hatte mich aus ihren Reihen ausgeschlossen (nehme ich an), ich äußerte mich jedoch nicht mit linken Ansichten, ich war auf Abstand zur Weltveränderung gegangen. Ich erklärte mich also zu meiner eigenen kleinen Überraschung bereit, ein paar Handlangerdienste für diese Aktion beizusteuern. Und andere aus dem Freundes- und Szenekreis unserer WG, die mit linker Politik – mit Ausnahme weniger Insassen – nicht eigentlich etwas zu tun hatte, stießen dazu. Nicht weil sie über Nacht links geworden wären, sondern aus jugendlichem Erlebnisdrang. Die Sache war einmal etwas anderes als nur im „Strauß“, im „Rebstock“, im „Schwanenkeller“ zu hocken. An einem milden Samstagvormittag klappte ich mit Markus M. zwei Tapeziertische auf dem Marktplatz aus und das Infomaterial des KBW wurde ausgebreitet. Die ersten Flugblätter gegen das rassistische Regime der weißen Regierung im südafrikanischen Land fanden tatsächlich Abnehmer aus der Passantenschar. Einiges Szenevolk sammelte sich um den Infostand und seine Betreiber an, Grüppchen standen herum, brave Biberacher Bürger verhielten kurz den Schritt und eilten dann weiter, oder ohne kurz zu stutzen, an den „Spinnern“ vorüber. Andere blieben sogar stehen und ließen sich in einen kurzen dialogischen Schlagabtausch verwickeln. In der Nähe des Infostandes war ein quadratisches (oder rundes) Schild auf einer Staffelei aufgebaut, im Schild waren die Konterfeie des weißen Regierungschefs des südafrikanischen Staates (hieß er nicht Smith?) und anderer Reaktionäre aufgeklebt, auf die durften mit handtellergroßen Spielzeugarmbrüstchen (das sollte aber keine Anspielung auf das „Biberschießen“ während des Schützenfestes sein) kleine Pfeile mit Saugnäpfen dran abgeschossen werden. War das nicht richtig militant und revolutionär-gewaltsam? Auch ich Kriegsdienstverweigerer ließ Pfeile losschnellen. Fotos wurden gemacht (auf einem von ihnen ziele ich gerade, angetan mit meiner schwarzen Jacke, und schwarze Hosen trug ich dazu, die sieht man auf diesem Foto aber nicht), von unseren Leuten, von der Polizei. Der „Aufruhr“ war ja vorbei, „68“ halb vergessen; auch die RAF-Terroristen der ersten Generation saßen in Stammheim und anderswo in Einzelhaft hinter Gittern (in meiner Stuttgarter Zeit war ich einmal mit der Straßenbahn am Stammheimer Knast vorüber gefahren). Helmut Schmidts SPD/FDP-Pragmatistenregierung steuerte die Bundesrepublik nach rechts. Wir lebten im Herbst der Rebellion. Auch ich schmetterte das alte KPD-Lied vom Roten Wedding mit der in den ersten siebziger Jahren beliebten neuen Zeile gegen „die Genscherpolizei“ – Genscher war Innenminister – nicht mehr. Am frühen Nachmittag wurden Infostand und Zielscheibe abgebaut und das Transparent mit der kämpferischen „Losung“ kam zusammen gefaltet in einen Karton. Abends spielten zwei zusammen gewürfelte Mannschaften Fußball auf dem Platz oben am Lindele. Wacklig stand der Infostand nebst Scheibe und Losung nun hier am Spielfeldrand. Der Kaffeeausschank – die Einnahmen gingen in den Solidaritätsfond – wurde spärlich frequentiert, die Schriften und Werke zur Revolution – nicht nur die vom Dicken mit der Warze – noch sparsamer gekauft. Wurde etwas verkauft? War nicht mein Bier; das ich aus der Dose süffelte. (Der gepriesene Führer der zimbabwischen Revolution Mugabe entpuppte sich, wie alle Leute solchen Schlages, in den Jahren nach der weißen Regierung als sehr unangenehme Figur und Schwulenfeind; immer, wenn in der Presse etwas über sein Regime erscheint, und ich weiß die bürgerliche Presse nach wie vor richtig zu lesen, erinnere ich mich für zwei Sekunden an jenen Tag im September 1976 und bin froh, daß ich nicht allzu viele Sympathien vergab.) Ich war mit Fotoapparat von der Karpfengasse zum Lindele hinauf gestiegen und hatte das alte Lindelestraßenhaus, das nun saniert war, dem aber seine ockergelbe Farbe gelassen worden war, gesehen. „Vor einem Jahr“, dachte ich, „habe ich hier noch gewohnt.“ Ich fand es doch seltsam, daß ich nun vorbeizugehen hatte.
- Wieder gab es für Berlin einen heißen Sommertag.
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