4
Sep

4.9.2002

Die Aufzeichnungen erreichen nun also, wie es mir gestern so unterlaufen ist, die späten siebziger Jahre, aber wir waren ja schon in den achtziger und neunziger. Zeit vergeht, und die zwei Tumoren in den Lymphknoten wachsen. In meinem Alter stirbt mann an Aids, nicht an Krebs. Aber lassen wir das. Oder auch nicht, denn die Furcht vor dem Virus, das keine Moral kennt, hielt mich seit zwanzig Jahren von sogenannten Abenteuern ab. „I live like a monk“, sagte Jean Démelier vor zehn Jahren zu Klaus L. und mir. Auch er war im Alter, das ich inzwischen erreicht habe, wohl auch ein erotisch reduzierter Mann. Ich will ihm das jedoch nicht unterstellen, folgere nur aus seinen verhaltenen Klagen über dieses nicht ganz unwichtige Thema. Die Zeit zwischen Sommer 1978 und Januar 1981 nenne ich für mich „die dunklen Jahre“, und als sie noch währten, empfand ich sie schon als solche. Mein Leben verfinsterte sich stärker, Resignation und Depression fochten mich an, ich zweifelte an meinem Schreibvermögen wie nie zuvor. Wenig Geld, noch weniger als in den Zeiten davor, mit einer ausgeprägten Affinität zum Alkohol (die noch lange andauern sollte), fünfzehntausend D-Mark Schulden, die mir der Status als Hauptmieter der Karpfengasse 24 eingebracht hatte, und Biberach, obzwar etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, war für mich in sexueller Hinsicht Flach- und Niemandsland. Die Nervenkrisen meiner Mutter gingen tiefer. An Flucht war zu denken, sie wahrzumachen unmöglich. Berlin, das war der Fluchtpunkt, von dem geredet werden konnte. Und warum diese Stadt? Keine andere deutsche Stadt konnte je mein Interesse auf sich so heranziehen wie diese, in der sich furchtbar Vergangenes ereignet hatte, in der aber längst das größte Freiheitsversprechen für Männer, die junge Männer mögen, etabliert war. Und Berlin interessierte mich immer auch wegen seiner Vergangenheiten. Schlesien war ja mal preußisch, und da ich sehr viel mehr von meiner Mutter als von meinem Erzeuger in mir habe, ist dieses Stück Unbewußtes womöglich in mir drin? Gibt es den Typus des Oberschwabenpreußen? In dem mehr Oberschwäbisches als Preußisches waltet? Aber Biberach/Riß, oder Biberach an der Riß, wie amtlich der Name lautet, hatte nicht allein an einem Frühlings- oder Spätsommernachmittags des Jahres 197... , der eine bestimmte, monatsbedingte Bewegung von Isothermen und Isotheren über unseren Kontinent brachte, vor, mich nicht so schnell ziehen zu lassen. Wie verwünschte ich an manchen Abenden, und mehr noch in den Nächten, die Enge des Städtchens und demzufolge sein mangelhaftes Angebot an hübschen Jungs! Es war ja nicht auszuhalten! Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, und ich will mich mit dem geschätzten Vers keinesfalls über „die Biberacher Situation“ lustig machen. Denn es gab einen Fluchtpunkt, der näher lag als die große Stadt und mir sehr vertraut war: das Kino.
- Nicht mehr gar so heiß, angenehme sommerhafte Wärme.
4.9.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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