1
Sep

1.September 2002

Die Tage der chaotisch gewordenen WG in der Karpfengasse waren im Frühjahr 1978 gezählt. Plötzlich hausten Leute in den Kammern des obersten Stockwerks, deren Gesichter mir zwar bekannt waren, über deren Einzug aber nie gesprochen worden war und die nicht zu denen gehörten, die hier etwas zu suchen gehabt hätten. Mir war’s wurscht, ich soff ständig nachts in den Kneipen, war frustriert bis in die Knochen hinein. Endzeitstimmung machte sich bemerkbar: die Mieten wurden nur noch von drei oder vier Bewohnern gezahlt, auch ich hatte wieder kein Geld dafür. Ich fristete mein ungut gewordenes kleines Leben, das hauptsächlich den Kneipenbesuchen gewidmet war (immerhin las ich mit einiger Regelmäßigkeit), von spärlichen Zuwendungen, die meine arme Mutter, die doch selbst nicht viel hatte, mir ab und zu gab. Ich war in meine erste wirkliche Lebenskrise geraten. Wie ging man damit um? Im Mai oder im Juni flatterte die Kündigung des Mietverhältnisses für das Haus auf meinen Schreibtisch. Der ausstehende Betrag war beträchtlich, und mehr als das: astronomisch hoch. Das Gefühl, das sich im Bauch ausbreitete, nennt man „mulmig“. Ein Zustand zartest aufsteigender Irrealität umfing mich für einige Stunden, bis er mit der Unterstützung von ein paar kräftigen Drinks verscheucht war. Ich wußte ja, was auf mich zukam: alle Mietschulden landeten bei mir. „Irgendwie bewältige ich das auch noch“, redete ich mir besänftigend zu. Ich informierte die Hausbewohner. Die, die illegal sich eingenistet hatten, waren am schnellsten wieder verschwunden. Zwei, drei Leutchen gaben mir maulend zu verstehen, ich habe die WG herunterkommen lassen. Ich verwies auf die Mietschuldner, von denen mir einer im Januar frank und frei erklärt hatte: „Ab sofort zahle ich nichts mehr!“ Er war den Murrenden wohlbekannt. Fakt war Fakt; das Haus mußte bis Mitte Juli spätestens geräumt werden. Ich hatte ja das Zimmer in der Hermann-Volz-Straßen-Wohnung, andere machten sich auf die Suche. In den Tagen nach dem Schützenfest klopfte ich – andere Bewohner waren schon fort – bei Heinrich S. wieder an, ob er meinen Krempel transportieren könne. Ich kam wieder bei Muttern unter; was sie nicht ungern sah, nie war sie damit einverstanden gewesen, daß ich „in dieser Bude“ hauste. Mir paßte es nicht, doch mußte ich mich der Notwendigkeit fügen. So verstauten wir meine Möbel im VW-Bus, in zwei Fuhren brachten wir alles auf’s Hühnerfeld und stellten das meiste davon in den Keller, in dem meine Mutter selbst die leeren Pralinenschachteln aus der Lindelestraßenzeit noch aufbewahrte. Bei dieser Aktion war ich natürlich auch nicht sehr nüchtern; ich hatte die Beifahrertür schlecht geschlossen, während der Fahrt schwang sie auf, ich sagte „Huch!“ und Manfred S. – der ein paar Sekunden des Auszugs mit seiner Super-8-Kamera filmte – packte mich eben noch rechtzeitig am Arm und zog mich ins Fahrerhaus zurück, wo wir zu dritt vorne hockten. Panama der Kater hatte sich in jenen Tagen einen Ausflug gegönnt; so ging ich jeden Tag hinab in das nun öde und leere Haus, in dem noch allerlei Kleinkruscht herumlag und zurückgelassen wurde, um ihn in die Finger zu bekommen. Ich machte mir wieder Sorgen um ihn. Tatsächlich erschien er eines sonnigen heißen Tages im Haus, als ich in ihm herumstrich, zu dessen Fenstern Sonnenstrahlen hereinstachen und wie durchsichtige Messer den von meinen Schuhen aufgewirbelten Staub durchschnitten und in dem außer dem Staub nur noch Erinnerungen in den Räumen schwebten. In meinem Zimmer, in dem es eineinhalb Jahre lang nach Katzenpisse gerochen hatte (Katzen und Kater markieren ihren Bereich), und dieses etwas strenge Odeur war geblieben – lag seit Tagen eine große Tasche. Ich packte das gar nicht so leichte Tier und verfrachtete es in die Tasche, ließ den Reißverschluß etwas offen und transportierte den Kater rasch mit dem nächsten Bus zur Wohnung. Sie war nun Panamas neues Zuhause. Nicht lange danach, Ende Juli, spazierte ich in einem Sommertag hinab zur Stadtmitte zum Büro des Hausbesitzers, der im Grunde, als Eigentümer einer kleinen Baufirma, ein Faible für „Lebenskünstler“ (gehabt) hatte, und übergab die Schlüssel. „Da wohnt aber noch immer einer!“, schnaufte er kurzatmig. „Der muß ganz schnell raus, sorgen Sie dafür!“ Ich wußte von nichts. Es stellte sich heraus, daß Manfred als einziger der alten Mannschaft oben unter dem Dach mit seinen Tieren geblieben war. Er fand keine Unterkunft, arbeits- und mittellos, wie er war. Wenn ich mich richtig entsinne, blieb er sogar noch bis in den August hinein, bis er endlich eine neue Bleibe gefunden hatte. An einem der Nachmittage, in denen ich auf Panama den Kater gewartet hatte (eine Schüssel mit Futter und eine mit Wasser wurde täglich aufgefüllt), war ich mit meiner Instamatic durch die Räume gegangen und hatte fotografiert; die Reste von fünf Jahren Freakleben. Diese letzten Dokumente einer freien Zeit wurden dann im Fotoladen irgendwann einmal fortgeworfen, denn ich hatte nie genug Geld, um sie abzuholen. Warum habe ich nicht einmal auf ein paar Gläser Wein verzichtet? Heute bedauere ich, diese Fotos mir nicht vorlegen zu können und ärgere mich über meine Wurschtigkeit.
- Nach wie vor sommerlich.
1.September 2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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