25
Aug

25.8.2002

Der Jazzclub florierte; und ich lernte neue Freunde kennen. Die Kaltenbach-Brüder, Stefan und Bernhard. Kurt, der Älteste der drei Brüder, hatte mich an einem Dezembertag im Jahr 1974 in seinem Auto aus Stuttgart, wo er Metallurgie, wie ich glaube mich zu entsinnen, studierte, mitgenommen. Wir begegneten uns danach nur zwei- oder dreimal im Lauf von zwanzig Jahren. Bernhard, selbstbewußt und konservativ, saß im Frühjahr 1976 vor meinem Schreibtisch in der Karpfengasse, sechzehn Jahre alt, und wollte wissen, von was ich eigentlich lebte. Ich erzählte ihm von meinem abgebrochenen Studium, von Bafög-Geld, von meinen Schreibereien, was ihn alles nicht sehr überzeugte. Dennoch befreundeten wir uns. Mit ihm und Stefan, dem etwas älteren Bruder – beide trugen ihre Haare lang – und der Karpfengassen/Jazzclub-Clique saß ich im „Strauß“; das alte Umfeld der politischen Zeit war fast verschwunden. S. und B. machten Jazzrockmusik mit einer eigenen Gruppe, S. spielte Leadgitarre und sang, B. drosch auf’s Schlagzeug ein. Anton W., ein verschlossener junger Typ, machte sich stoisch an seinem Bass zu schaffen; gut, wie man sagte. War nicht noch ein vierter Mann dabei? Aber wer? Irgendwann beim Rotwein rückte ich damit heraus, daß mein Erzeuger jahrzehntelang in der Firma, die der Vater von Bernhard und Stefan und Kurt leitete, gearbeitet hatte. B. und S. waren eloquent und ironisch und ihre Freundschaft war mir angenehm. Beide hetero, S. verbändelte sich mit Karin R. von den „R.-Sisters“, wie die drei hübschen Schwestern in unserer Clique hießen, und irgendwann fing B. an, sich für die ältere Christina in der Karpfengasse zu interessieren. 1978 waren sie dann liiert. Auf einer Sommerparty im Hause K. tauchte wieder ihr Bruder auf, wir unterhielten uns über Literatur. Ich hatte zwar ein Auge, manchmal auch beide Augen, auf B. geworfen, doch stand von Anfang an fest: keine Chancen. Ich wollte es lange nicht richtig wahrhaben. Ich litt etwas, und manchmal etwas mehr. Ende der Siebziger beruhigte sich das Gefühl. B., dem es nicht verborgen geblieben war, konnte damit wenig anfangen, wir blieben aber befreundet, er distanzierte sich nicht, wie es so mancher andere in so einem Fall für nötig hält. Unsere Freundschaft als Beteiligte der Kleinstadtszene, die sich vor allem aus der Begeisterung für die Rock- und Jazz-Musik heraus definierte, beruhte auf der natürlichen Sympathie, die sich überall in den menschlichen Beziehungen entwickeln kann, auch wenn die erotischen Präferenzen divergieren. Stefan, den alle nur Steff nannten, zog mich zuweilen auf gutmütige Weise auf: „Na, wie steht’s denn mit der Liebe?“, und das war nun ganz allgemein auf meine Situation als Schwuler in der kleinen Stadt gemünzt. Auch er sah mir an, daß es meistens nicht sehr gut damit stand, wollte mich mit seinem Spruch auch nicht verletzten, vielmehr glaubte ich eine Spur Mitgefühl darin zu entdecken.
An einem Nachmittag – noch immer schien der Hochsommer über die Stadt zwischen den Hügeln und Anhöhen, nach dem 20. August 1977 –war ich im Kaltenbach’schen Haus an der Westseite des Talfelds, dem Stadtteil, der sich oben hinter dem steilen bebauten Hang, der die Innenstadt nach Osten hin begrenzt, an ihm entlang zieht, von S. und B. zum Kaffeetrinken eingeladen; ich sah vom Fenster aus hinab in den Talkessel mit dem Turm des „Ulmer Tors“ und dem der Stadtpfarrkirche, die aus den dicht an dicht liegenden roten Dächern hervorragten; auf der gegenüberliegenden Talseite stieg der Gigelberg mit dem Stück der historischen Stadtmauer auf, die links vom runden Weißen Turm, der zu jener Zeit grau war, begrenzt ist, rechts vom höheren schlanken, mit rechteckigen Mauern hinaufstrebenden Gigelbergturm beschlossen wird, und in der Mitte dieser Aussichtsanhöhe, der „Schillerhöhe“, läßt ein hübsches Törchen den Flaneur zum ehemaligen tiefen Wehrgraben, zum Hirschgraben (vom Kaltenbach’schen Fenster nicht einzusehen, aber in meiner topographischen Fantasie setzte ich den Weg dort drüben fort) durch und auf dem von Baumkronen überdachten Weg, der über eine Brücke verläuft, kommt man auf den eigentlichen Gigelberg. Ich schätze es ja immer, eine gute Aussicht zu haben, und daß ich sie in meiner kleinen Wohnung hier in Berlin nicht habe, schmerzt mich oft; ich setzte mich dann an den Tisch, Steff servierte den Kaffee, und ein Zopfbrot mit Butter gab es auch dazu. Wir tranken den Kaffee, bestrichen das Zopfbrot mit Butter, aßen es, plauderten, als Stefan, der frischen Kaffee aus der angrenzenden Küche hereinbrachte und eine Zeitung in einer Hand hielt, mich fragte: „KD, ist das dein Vater, der hier drinsteht?“ Ich wußte nicht, was er meinte, sah fragend auf. „Hier, die Todesanzeige“, sagte Steff und reichte mir die Zeitung. Ich war baff. Mein Erzeuger war gestorben. „Der kalte Kacker!“, rief ich perplex aus. Die beiden Brüder sahen mich eigenartig an. „Na, KD ...“, sagte Steff. „Immerhin war er dein Vater.“ Ich starrte auf die Anzeige. Sie war von der Konkubine meines Erzeugers ins Lokalblatt gesetzt worden. Ein Schauer rieselte mir den Rücken herunter. Ich bereute meinen unbewußten Ausruf nicht, und ein seltsames Gefühl von freierem Leben, das mit einem anderen, für das mir kein ganz passendes Wort einfällt, das aber etwas Triumphalisches an sich hatte, einherkam, stieg allmählich in mir auf. Ich war kühl und auf seltsame Weise euphorisch, von der exorbitanten Nachricht aufgeputscht; wie vor etwas Neuem, das man noch nicht kannte und das aufregend war. Ich stand auf. „Ich muß in die Karpfengasse“, sagte ich, oder etwas in der Art. Wer saß noch am Tisch mit dabei? Kein anderes Gesicht als das der beiden Brüder schwebt mir vor dem inneren Auge. Bestimmt ein anderer Musiker erlebte diese Szene mit. „Meine Mutter wird bald da aufkreuzen oder ist schon da“, fügte ich an. Ich verabschiedete mich und ging durch den schon schattiger werdenden frühen Abend durch die Stadt. Dort brauchte ich nicht lange zu warten, bis meine Mutter, dunkel gekleidet, in mein Zimmer trat; in das größere an der Vorderseite des Hauses. „Weißt du es schon?“, fragte sie mit müdem Gesicht. Ich bejahte und nannte auch den Ort, an dem die Nachricht an mich heran gekommen war. Sie nickte nur. Es war eine jener Situationen, in der keiner weiß, was er eigentlich sagen soll, mit Sätzen darin, in denen Beerdigungsmodalitäten vorkommen. Jeder kennt sie oder wird sie kennenlernen. Wir texteten eine eigene Trauerannonce. Meine Mutter hatte sie vorformuliert. Sie erschien zwei Tage später. Ich verhandelte mit meiner Mutter, deren Verbitterung mit den Jahren fast ganz in Gleichgültigkeit aufgegangen zu sein schien, über die für mich unmögliche Forderung, zu diesem Anlaß endlich zum Friseur zu gehen. Wir einigten uns darauf, daß ich meine Mähne nur um eine bestimmte Länge kürzen ließ. Ich war dennoch ungehalten. Warum sollte ich mich, nur weil „der Alte“, wie meine Mutter und ich den Verstorbenen titulierten, das Zeitliche hinter sich gelassen hatte – „nach mir die Sintflut!“, habe er einmal in den fünfziger Jahren ausgerufen – in meinen Persönlichkeitsäußerungen, zu denen unzweifelhaft lange Haare gehörten, einschränken lassen? Warum ein Zugeständnis machen? Verwandtschaft väterlicherseits kam nach vielen Jahren aus Göttingen zur Bestattung auf dem Stadtfriedhof. Sie ging mich nichts mehr an. Die Zeremonie brachte meiner Mutter eine weitere öffentliche Demütigung ein, als die Gefährtin meines Erzeugers als erste vor dem Grab den ersten Erdwurf mit der Schaufel ausführen durfte; darauf hatte man sich offenbar in Verhandlungen, die die Göttinger führten, geeinigt. Dann erst schippten meine Mutter und ich Erde über den Sarg. Mit steinernem Gesicht trat meine Mutter zurück, ich warf, weil es nun einmal Sitte ist, das, was ich auf die Schaufel bekam, hinab. Ich trug eine sorgsam aufgesetzte Miene der Ungerührtheit. Händeschütteln am Ende der Veranstaltung; dann verzog ich mich sofort ins „Alte Haus“ und nahm etwas Alkoholisches zu mir. Ich weiß gar nicht, was meine Mutter danach tat. – Jahre vergingen; über vier Ecken hörte ich, nach so langer Zeit, von einem Bekannten, bei der Beerdigung meines Vaters habe ich ja, wie ihm zugetragen worden sei, weil er jemandem gesagt hatte, daß er mich kenne, einen sehr unbeteiligten Eindruck gemacht. Ich zuckte mit den Schultern.
- Der Sommer bleibt heiß.
25.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

Suche

 

Kürzlich kommentiert

Ein wichtiges Projekt!
Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Statistisches & Linksphäre

Linksphäre:
Wer linkt hierher?

Besucherzahl:

Besucher-Statistik

Credits

Status

Online seit 6705 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 20. Dez, 13:02

biographie
galerie
impressum und (c)
projekt-info
widmung
KD
prolog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren