16
Aug

16.8.2002

Mittags bin ich, aus der U-Bahnstation Uhlandstraße herauskommend, den Ku’damm ein Stück gegen die Fahrtrichtung der unterirdischen Linie zurück gegangen, um die Nr 217 zu finden und zu fotografieren, die Hausnummer Kurfürstendamm 217, denn gestern, als ich – zum wievielten Male in den zurückliegenden dreißig oder einunddreißig Jahren? – die Monographie von Wilfried Berghahn las, erschienen im 41. – 45. Tausend im September 1970 – erstaunlich die Höhe der Auflage! – im Rowohlt Verlag, wo sie in der Erstauflage im März 1963 herausgekommen war, deren Vorder-, Rücken- und Rückseite blaßrosa eingefärbt ist, was ich immer, wenn ich sie zur Hand nehme, zum Foto des sehr müden Musil, der in einem Korbbsessel sitzt, wie auch ich einen – aus der Lindelestraßenmansarde – unter meinem Meublement habe, eine Zigarette in der schlaffen linken Hand haltend, als sehr unpassend empfinde, beschloß ich, das in der rororo-Monographie abgebildete große Haus, in dem Musil in der Pension „Stern“ am zweiten Teil seines Romans geschrieben hatte, aufzusuchen und diese abgedruckte Fotografie mit dem jetzigen Zustand des Gebäudes zu vergleichen und Fotos von ihm anzufertigen. Ich habe das getan, habe ein paar Aufnahmen mit der „Canon“-Kamera, die Klaus L. mir, schon todkrank, in den Wochen vor dem end-gültigen Verlassen seiner Wohnung in seinem Haus in der J.-H.-Knecht-Straße schenkte, geknipst. Ich ging zuweilen an diesem Eckhaus achtlos vorbei, wenn ich in die Fasanenstraße einbog, auf dem Weg zum Literaturhaus, das sich dort befindet, um mir eine Lesung anzuhören, wie im Frühjahr 2000, als der Lyriker Kling barocke Gedichte gelesen und dazu literarkritische Kommentare gegeben hatte, oder wie im März letzten Jahres, als die Buchläden, die hauptsächlich Schwulenliteratur verkaufen und die von ihren Inhabern die „schwulen Buchläden“ genannt werden, wobei anzumerken bliebe, daß ich mich in den Prinzen Eisenherz durchaus hätte verknallen können, lebte er in meinem Zeitalter, die dritte Anthologie, in dem Stories aus dem Wettbewerb um den „schwulen Literaturpreis“ veröffentlich sind, vorstellten. (Christoph M., der Junge, der auf dem Rockfestival 1973 in der Gigelbergturnhalle vor seiner Rockgruppe ins Mikro sang, der hatte diese erotische Prinz-Eisenherz-Figur und -Frisur und hätte in meinem Leben eine Prinzenrolle spielen dürfen, wenn ich nicht – .) Oder wie kürzlich im Juli, als ich zur Lesung von W. Dürrson eilte; Herburger war krank. Zur Dürrson’schen Lesung, aus der ich erfuhr, daß D. noch in den letzten Jahren Hermann Hesses mit ihm bekannt gewesen war, ging ich freilich nicht wegen der Hesse-Jubilarien, die allerorts abgefeiert wurden (ich las nie etwas von H.), sondern nur, um mir von D. sein Lyrik-Bändchen „Pariser Spitzen“ signieren zu lassen, in dem, wir erinnern uns vielleicht noch, jener Balkon-Vorfall in gereimten Versen für eine Nachwelt, die sich eventuell nach wie vor für den Fenstersturz zu Prag (die Moldau trat über die Ufer und ergoß sich an die Häuser), nie aber für die Démelier’sche Variation vom Balkon zu Biberach zu interessieren vermag, festgehalten wird. – Als ich vor dem Haus Kurfürstendamm 217 gestanden bin, ist mir aufgefallen, daß das „Astor“-Kino wie zu Zeiten M.s existiert; ging M. von seiner Wohnung hinunter ins Kino? Kafka ging ins Kino, wie uns Hanns Zischlers Buch beweist, aber Musil? Ich habe jedoch Anfang dieser Woche das Wort „Lichtspielindustrie“ in seinem Buch gelesen. (Aber soeben habe ich die rororo-Monographie aufgeschlagen und mir ist beim Betrachten des Fotos der Nr. 217 eingefallen, daß es ja erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden sein könnte. Nun hieße es zu recherchieren.) Das Wort „Lichtspielindustrie“ kommt aber nur in einer Aufzählung von Alltagserscheinungen vor, und auch, sofern ich bei fortgesetzter Lektüre nicht noch einmal darauf stoße, nur einmal. Die Kinematographie war für M., daraus zu schließen, offenkundig kein lohnenswertes Thema. Vermutlich also kannte er das „Astor“-Kino im Haus... nicht; es war dort noch nicht eingerichtet. Was nicht unterstellen soll, er hätte dem Kino mehr abgewinnen können, wenn er Gelegenheit gehabt hätte, im Gebäude, in dem er wohnte, ins Kino gehen zu können. Auch besaß er dafür, eingedenk seiner finanziellen Verhältnisse, wohl kaum das Geld. Da hatte ich es besser: ich durfte fast zwanzig Jahre lang umsonst Filme gucken; mit der Einschränkung: wenn Zeit dafür war.
- Sommerstimmung.
16.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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