14
Aug

14.8.2002

Im August 1976 war im „Schwanenkeller“ mein ausgeflipptes Verhalten an jenem Abend, als ich das Whiskyglas auf dem Tisch zerdrückt hatte, schon lange vergessen; auch von mir. Nicht jeden Abend saß ich dort, wie ich ja nie jeden Abend dort gesessen hatte, nur an manchen der warmen Nächte schlug ich die Richtung Bismarckring ein, aus dem Haus in der Karpfengasse hinaustretend, am „Rebstock“ und „Strauß“ – in beide Lokale wurde ein überprüfender Blick geworfen – , vorbeikommend, die Wielandstraße hinaufgehend, die ich im Jahrzehnt davor jeden Tag entlang gegangen war, weil sie u. a. ein Teil meines Schulwegs gewesen war. Es kann schon so gewesen sein, daß mir während dieses Gangs zum „Schwanenkeller“ einmal in den Sinn kam, daß meine Routen durch die kleine Stadt immer dieselben seien, als bewegte ich mich auf unsichtbaren Schienen, die sich nie aus der Stadt hinauslegten; und auch der Gedanke, daß ich sogestalt nicht weit gekommen sei, in all den Jahren, dürfte sich gezeigt haben. Schwand aber, denn an ein sogenanntes Weiterkommen hatte ich noch nie viele Gedanken angesetzt, Zukunft würde, sofern man nicht an Leberzirrhose oder an einer anderen Krankheit (ich war um meinen Leib unaufhörlich besorgt) stürbe, von allein kommen, und irgendwie käme man dann in ihr auch zurecht. So war es denn auch. Ehrgeizig war ich nie. War mir viel zu streberisch und kleinbürgerlich. Ich sah zu, von den Krakenarmen der Verwertungsmaschinerie nicht erfaßt zu werden. In einer der „Schwanenkeller“-Nächte sagte Botz zu mir: „Nachher hören wir uns Mahler an.“ Er war ein versierter Klassik-Freak, und Gustav Mahler einer seiner Lieblingskomponisten, wie ich, nicht 1976, sondern früher, an ihm festgestellt hatte. Seit Mahlers Adagietto in Viscontis Film „Tod in Venedig“ war auch ich für diese Musik zu haben, kaufte aber nie eine Platte; überhaupt kaufte ich in den Siebzigern keine Schallplatten mehr. Manchmal hörte ich Schallplattenmusik, wenn ich bei anderen saß. Ich zeigte mich Botz gegenüber einverstanden. Die Mitternacht war weit überschritten, als die letzten Gäste, die nicht Mahler hören wollten, gingen. Außer B. und mir blieben nur zwei oder drei Leute im Lokal, darunter eine Tussi, die mir unbekannt und die nicht hübsch war, die ihre Augen aber an mir festsaugte, wie ich, unangenehm berührt, festzustellen mehr als eine Gelegenheit hatte. Ich ignorierte sie während des Rests der Nacht, in der, hinter geschlossenen Fensterläden (sie waren immer geschlossen), die zweite, die dritte, die fünfte Symphonie machtvoll durch den Raum und unsere Köpfe zogen; ich trank Johnny Walker Black Label dazu, bis der Morgen nicht graute, vielmehr sommerlich-freundlich-schön vor einem dann doch, als diese Musik verlosch, geöffneten Fenster still auf die ersten menschlichen Laute wartete; in den die letzten Klänge hinausspielten. Botz verlangte nichts für den Whisky; zu einem Viertel war die kantige Flasche bestimmt von mir geleert worden. Beschwingt, keinesfalls betrunken, schritt ich zur Karpfengasse und legte mich hin. (Irgendwann während einer der Symphonien war die Tussi wütend aus dem Raum verschwunden.) Diese Mahler-Nacht fand vor allem wegen des Kontrastes zur Örtlichkeit in mein Gedächtnisarchiv Einlaß: hochbürgerliche melancholische Weltsicht, musikalisch verdichtet, in einer Freakkneipe in der Provinz. – .
- Vormittags „bedeckt“, nachmittags zog die Wolkendecke langsam nach Osten und gab das Sonnenlicht frei.
14.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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