13.8.2002
Eher gegen Ende des Augustmonats 1986 gab der Philosoph J. Kraft bei sich zuhause in Rißhöfen, einem Flecken nahe Warthausen, unterhalb des Schlosses W. sozusagen, das insbesondere durch Christoph Martin Wieland eine nicht nur regional begrenzte durchschnittliche Bekanntheit – Berühmtheit wäre schon zuviel gesagt – bekommen hatte, eine Party. Ich hatte Kraft, der sich lange und ausführlich mit dem Tod und seiner möglichen Überwindung, wie sie Ernst Bloch in seiner Hoffnungsphilosophie in versteckten Stellen für eines fernen Tages nicht ganz unmöglich antizipiert, beschäftigte, viele Seiten darüber schrieb, die ich aber nicht kenne, ein Jahr früher zum ersten Mal gesehen; ein Mann meiner Generation, obwohl zwei oder drei Jahre jünger, in ungefähr meiner Körpergröße, mit einem hageren Gesicht, in dem die Nase dominiert, und auch sehr langem gelockten dunklem Haar, der sich den Verwertungsinteressen der kapitalistischen Gesellschaft auf seine Weise, die mit meiner kommunizieren konnte, so gut wie möglich entzog, bescheiden lebte, malte; als wir in seinem großen Zimmer oben im Bauernhaus auf Stühlen, alten Sesseln, einem Sofa saßen, stand ich zu Beginn der Party, die diesem Begriff so sehr nicht entsprach, vielmehr keine ausgelassene Spaßoberflächlichkeit war, sondern eine Gesprächs- und Disputierrunde darstellte, auf und betrachtete eines der Ölbilder, das noch auf der Staffelei lehnte, eine Landschaft in düsteren Farben, die ins Phantasmagorische hineinlugte. Till, der am späteren Nachmittag zu mir gekommen war – er hielt sich, ohne daß ich davon gewußt hätte, für ein paar Tage in der Stadt auf (er war schon fortgezogen) –, hatte zunächst nicht mitfahren wollen, er kenne dort doch niemanden, stieg dann aber in das Auto, das mich vor dem Hochhaus abholte, ein, und saß nun dabei, hörte den Gesprächen, Unterhaltungen, aufmerksam zu, wie mir schien. Klaus L. war anwesend; der Pianist Heinzel, der drei Jahre danach im Herbst 1989 zusammen mit dem Cellisten B. von der Jugendmusikschule für die Lesung, die Mario K. und ich veranstalteten, Stücke von Schostakowitsch beitrug; der „schöne Ralph“, ein gut aussehender, ein wenig weich wirkender junger Mann mit langen Locken (noch keine zwanzig), die sein cherubimhaftes Erscheinungsbild bekräftigten, der einen zarten Eindruck auf mich machte und mir überaus sympathisch war; Frauen mit Intellekt, doch mehr Männer, die mir in ihrer Mehrzahl aber, mit zwei Ausnahmen, nun nicht mehr erinnerungsbildlich zur Verfügung stehen. Die eine Ausnahme war der Dichter Dürrson, von dem wir zu Anfang dieser Lesestücke etwas gesagt bekamen; ich war überrascht, als ich von Kraft erfuhr, wer dieser Herr sei, denn ich hatte Texte von ihm in den siebziger Jahren in der linken Literaturzeitschrift „kürbiskern“ gelesen und entsann mich dessen im Augenblick der gegenseitigen Vorstellung. Er lebte auch in den Achtzigern auf Schloß Neufra bei Riedlingen an der Donau, von Biberach an die zwanzig Kilometer entfernt, im westlichsten Winkel des Landkreises; ob er auch sein Apartment in Paris in jenen Jahren schon hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Über eine weibliche Bekanntschaft des Gastgebers des besagten Abends, die ebenso auf Schloß N. gewohnt habe, sei D. eingeladen worden. Die zweite Ausnahme war Christoph H., damals wohl bei der Bundeswehr (was ich auch in seinem Fall eigentümlich fand) irgendwo stationiert und auf Heimaturlaub oder so ähnlich, auch ein hübscher junger Mann mit vollem Gesicht, kleiner als ich, mit dem ich mich 1984, als er noch Gymnasiast gewesen war, befreundet hatte, und der nun während des Abends, neben mir sitzend – nein, das spielte sich doch an einem anderen Abend, zu dem Dürrson auch anwesend war, ab – aus Stanniolpapier der Zigarettenschachteln kleine phantastische Gebilde formte, die sich in seinen Fingern wie von selbst herzustellen schienen. Der Dichter war von der Leichtigkeit der Herstellungsmethode wie von ihren Ergebnissen beeindruckt und sagte etwas dazu, das mir entfiel. Zwischen D. und mir entspann sich – nun sind wir wieder im ersten Abend bei Kraft – eine Diskussion zu Gott weiß was; ich redete nahezu unaufhörlich, die Worte entströmten mir, kaum daß sie sich mir gebildet hatten, in einer sturzbachähnlichen Suada, was ich gerne wahrnahm, und ich versuchte, die Schnelligkeit der Gedanken- und Wörterproduktion noch zu beschleunigen. Der Whisky, den ich großzügig zu mir nahm, wirkte psychedelisch auf mich; das gibt es, diese Wirkung des schottischen Getränks ist bekannt. Ich quasselte und rasselte; die Neuronen waren freigeschaltet. Till saß dabei und sprach kaum ein Wort. Seine Anwesenheit, selten genug, befeuerte mich zusätzlich. „Du warst wie auf Trip“, sagte Klaus L. am Tag danach. Gegen dreiundzwanzig Uhr löste sich die Gesellschaft auf. Wir fuhren nach Biberach hinein, zuvor zog ich an der alten Warthauser Brauerei an einem Automaten noch eine Schachtel „Kurmark“. Till setzte sich ab; ich spürte das ziehende Gefühl der Enttäuschung im Bauch. Zuhause im fünften Stock trank ich Wein und rauchte, als das Klingelgeräusch an mich drang. Ich hob den Hörer des Haustelefons ab. „Ich bin’s“, sagte Till unten. Der Impuls der Taste, die ich drückte, öffnete die Haustür. – Er ging wie üblich sehr früh am Morgen.
- Trüb, regnerisch, aber der Regen fiel nicht in den Mengen wie in östlichen Teilen der Republik, wo er Sintfluten herbeiführte; ein grauer Tag.
13.8.2002
- Trüb, regnerisch, aber der Regen fiel nicht in den Mengen wie in östlichen Teilen der Republik, wo er Sintfluten herbeiführte; ein grauer Tag.
13.8.2002
13.08.