12
Aug

12.8.2002

1966 verbrachte ich einige Zeit meiner Sommerferien in Göttingen. Warum? Hatte ich keine Lust dazu gehabt, mit meiner Mutter in die „Ostzone“ zu fahren? (Und waren wir wirklich seit 1963 nicht mehr dort gewesen? Erst 1968 wieder? Das erscheint mir fast unglaubwürdig, doch konnte auch Tante R. sich kürzlich nicht an ein anderes Jahr erinnern.) Wir nahmen den D-Zug, stiegen in Göttingen aus, gelangten vermutlich in einem Taxi zur Iheringstraße, wo meine Verwandtschaft väterlicherseits seit Jahrzehnten wohnte: mein Patenonkel und seine Frau („Tante Herta“), von denen meine Mutter in den unglücklichen fünfziger Jahren Zuspruch und moralische Unterstützung, auch wenn dies nicht im Übermaß geschah, erfahren hatte. Mein Erzeuger war in meinen beiden ersten Jahren der Ansicht gewesen, die Ehe verliefe besser, wenn ich eine Zeitlang in Göttingen, bei seinem Bruder und dessen Frau, bliebe. Was dort strikt abgelehnt worden war; das Kind gehöre zur Mutter, war man der Ansicht gewesen. Diese Formulierung fand ich vor einigen Monaten in den Papieren des Scheidungsverfahrens, das mein Erzeuger angestrengt hatte und das zu seinen Ungunsten ausgegangen war, die meine Mutter sorgfältig aufbewahrt hatte und die ich die Jahre nach ihrem Tod nie genau las. Ich hätte also dem Willen F.D.s zufolge wesentlich prägende Kinderjahre in der niedersächsischen Universitätsstadt verbringen sollen; was ich noch nach Jahrzehnten als Unverschämtheit betrachte. Schon früher hatte ich den nicht ganz unbegründeten Gedanken, daß ich meinem Vater nie viel bedeutete, seit meiner Geburt nicht; ich war ihm damals wohl nicht sehr willkommen gewesen, doch habe auch er, wie meine Mutter mir in den sechziger Jahren gesagt hatte, den Kinderwagen stolz über den Marktplatz geschoben. Mir war er ja ebenfalls zeit meines Lebens recht nebensächlich. Unsere Beziehung, denn wir sahen uns ja, wenn ich in den sechziger Jahren das monatliche Unterhaltsgeld in einem Raum der Firma „Kaltenbach & Voigt“ abholte, und auch danach, seltener, bis Monate vor seinem überraschenden Tod, im „Café Lieb“, beruhte auf einer distanzierten, jedoch nicht unfreundlichen Halbgleichgültigkeit, die wir beide nie verändern wollten. Er redete mir nie in meine Angelegenheiten hinein, verlor 1976 auch kein Wort über meinen Studienabbruch. Das konnte mir nur lieb sein. Ich hätte eine Einmischung auch nicht geduldet.
Obwohl ich bei Verwandtschaft weilte, war mein Benehmen gegenüber den Göttingern von einer nicht unbedingt herzlichen Sachlichkeit und latenter Vorsicht geprägt. Ich war nicht allzu schüchtern und bewegte mich frei. Ich hatte dort ein Zimmer für mich. Die Verwandtschaft spürte sicherlich die kühle Zurückhaltung, die ich pflog, sagte aber nichts, was mir hätte unangenehm sein können. Sie wußten gut, daß ich auf der Seite meiner Mutter stand und nichts diesen Standpunkt hätte beeinflussen können. Oft saß ich in einem Gartenstuhl im Schatten auf einer Veranda oder einer kleinen Terrasse und las Western- und Science Fiction-Heftchen, „Wyatt Earp“ und „Perry Rhodan“, und eines Mittags ging ich durch die Stadt und wollte Pokerspielkarten kaufen; Doc Hollidays Erwerbstätigkeit begann mich zu interessieren. Ich fand aber keinen Laden und es war auch sehr heiß und ich wußte, daß dieses Begehren ein wenig versponnen war und kehrte um in die Straße, die nach dem neben Kerr bedeutendsten Theaterkritiker der Weimarer Republik benannt worden war. Ich kannte diesen zeitgeschichtlichen literarisch-dramatischen Hintergrund, weil meine Mutter mir davon gesagt hatte. Leider bin ich kein Dramatiker oder Theaterkritiker geworden, sonst hätte ich nun eine mystisch-mythische Verbindung konstruieren wollen. Wenn ich, sagen wir: zwei, drei Jahre einer frühen Kinderzeit in dieser Straße gelebt hätte: hätte ich später ein Stück geschrieben? Ich versuchte es ja, es funktionierte aber nie. Ich las in den siebziger und achtziger Jahren Stücke, brachte aber nie ein eigenes zustande. Nur einen, meinen, Film schrieb ich; aber das gilt wohl nicht, und ist auch eine andere Art von Dramatik. Ich war in der Pubertät, mir brach die Stimme; in diesen Wochen in Göttingen. Ein Cousin, etliches älter als ich, kutschierte mich in einem Käfer-VW ein bißchen durch die Umgebung, hinauf auf die Hügel, die östlich vor der Stadt aufragen, hinüber nach Nörten-Hardenberg, wo auch – weitläufige – Verwandtschaft wohnte, von diesem Sonntagnachmittag gibt es zwei Fotos. Ich sehnte mich trotz dieser Abwechslungen nach Biberach zurück, wo ich hätte tun und lassen können, was mir gefiel. Ich spazierte an universitären Gebäuden entlang und verspürte keinen Drang, eines fernen Tages durch die Hallen dieser altehrwürdig-berühmten Alma Mater zu wandeln, gelehrte Bücher unterm Arm und Gedanken im Kopf, die wahrscheinlich etwas mit Büchern zu tun haben würden, wie ich mir undeutlich vorstellte. Das war Zukunft, damals, und ging mich noch nichts an.
In einer der Göttinger Nächte masturbierte ich zum ersten Mal. Ich war vierzehn, pubertär im nicht allerersten Stadium, doch unerfahren, und sexuelle Gelüste waren mir unbekannt. In jener Sommernacht gaukelten, von irgendwoher, Gesprächsfetzen der Mitschüler, von denen ein paar offensichtlich in diesen Angelegenheiten viel bewanderter waren als ich (und vermutlich auch andere Schüler der Mittelschulklasse), Fotos in Illustrierten, die herum lagen, Filmbilder, belebt und angeregt, schemenhaft erahnte Situationen, die sich verdeutlichten, vor die sich zur Nachtruhe niederlegenden Tageseindrücke und -gedanken legten, und Szenen aus Umkleidekabinen, die plötzlich sehr realistisch vor mir erschienen, und ein wenig hatte man ja, spielerisch-neugierig, dieses längliche Organ schon begutachtet, das so wichtig, wie überall durchsickerte, sein solle, später; so begann ich es, die Gespenstervisionen gleichsam im Blick behaltend, es zu reiben, heftiger, und eine Flüssigkeit drang unvermittelt, in einem als besonders intensiv erfahrenen Moment, hervor. Ich erschrak, damit hatte ich nicht gerechnet, davon wußte ich nichts. So unaufgeklärt war ich, christliche Moral hatte verhindert, daß ich von gewissen Körperfunktionen keine Ahnung hatte. Ich machte mir wirklich Sorgen über das, was hier geschehen war. Was war das für eine klebrige Flüssigkeit? Ich wurde mit einem Mal fast sehr religiös und erbat Beistand, um nicht krank zu werden. Noch am nächsten Tag machte ich mir Vorwürfe, doch nichts Unregelmäßiges, Unheilbringendes bahnte sich an, ich fühlte mich gut und gesund, und die nächtliche Begebenheit verdrängte ich in den Tagen, die ich noch in Göttingen verbrachte. Meine Mutter hatte ihre Besuchstour quer durch die DDR wieder einmal beendet, kam in der Universitätsstadt an; sie staunte über meine Stimmveränderung, auch sei ich doch größer geworden!? Mir war eine Verlängerung meines Körpers nicht aufgefallen, und es war auch nur höchstens ein Zentimeter, groß für mein Alter war ich ja sowieso. Ich war froh, Göttingen verlassen zu können. Am nächsten Tag Abreise. Wieder wurden wir in der Lindelestraße von Frau H. begrüßt, die Kuchen auf den Tisch gestellt hatte. Ich war zuhause und hatte, wie mir inzwischen klar geworden war, mein erstes wirkliches Sex-Erlebnis, wenn auch nur mit mir und meiner Vorstellungswelt, hinter mir. Das brachte mir jedoch auf den Gedanken, diesbezüglich nun aktiver zu werden und ich hatte nicht die Lust, die andere in diesem Alter auf Mädchen verspürten; und das beeinträchtigte meine Tage überhaupt nicht. Ich beobachtete nun freilich, wie andere Jungen sich allmählich verhielten; mit einigem Unverständnis. Mir kam das lächerlich vor.
Wenn der ICE in Göttingen hält, denke ich an diesen für mir damals bedrohlich-mysteriösen Vorfall, bis ich mich wieder meinen Zeitungen widme. – Lauter Todestage übrigens im August: heute vor siebenundvierzig Jahren starb Thomas Mann, ein Jahr später, übermorgen ist der Todestag, sein ehrlicher Feind B.B.; von beiden hab‘ ich gelernt, von dem, was sie geschrieben haben, genossen.
- Regenwetter. Das niederfallende Wasser zischelt mal lauter, mal leiser, hört auch manchmal mit dem Fallen auf, obwohl es das nicht beeinflussen kann, beginnt dann wieder damit. Kühl.
12.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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