6.8.2002
Wir – meine Mutter und ich, und manchmal war auch die Fischbacher Verwandtschaft dabei – unternahmen Ausflüge in die Region: so – um nur einige Orte zu erwähnen – nach Burg Stolpen, nach Meißen, wo ich die Geschichte des Porzellanmachers Böttiger erfuhr, in das Elbsandsteingebirge der Sächsischen Schweiz hinein, nach Dresden, fuhren auch – oder vermenge ich nun den Aufenthalt von 1963 mit dem von 1968? – mit einem Schiff der Weißen Flotte die Elbe hinauf nach Pirna. (Auf den malerischen Zinnen des Elbsandsteingebirges stand ich mindestens zwei Mal.) Auch gelangten wir mit der Eisenbahn ein Stück in die Landschaft, stiegen dann aus und erkundeten die Wälder und Heideflächen zwischen Dresden und der Sächsischen Schweiz oder sonstwo in stundenlangen Wanderungen, nach denen in ein Gasthaus eingekehrt wurde; oder auch nicht. – Ist es in diesem Haus endlich ruhig geworden! – Ich stand auf den Zinnen der zerfurchten Sandsteinwälle, die ein Gebirge zu nennen mir übertrieben vorkam, weil ich, von Ferne damals nur, das Gebirge der Alpen vom Lindele aus gesehen hatte, und sogar, wie mir im Augenblick vor das innere Auge – wieso spricht man nie von den „inneren Augen“? – kommt, von der Insel Mainau aus, auf der ich mich mit meiner Mutter und den Dr. Gawliks im Sommer zuvor einen prächtigen Sommertag lang zwischen Rosenrabatten und weitläufigen Blumenanlagen entlang bewegt hatte; ich thronte auf jenen weißgrauen Felsen und mein Blick schwang herrscherlich aus dieser Höhe über die Kerbe des Elbflußtals hinüber zur gegenüberliegenden Höhe, hinunter auf den anmutig in sanften Kurven liegenden Fluß, auf dem Spielzeugschiffe in beide Richtungen schwammen, die sich nach dem Abstieg wieder als beachtliche Kähne und Dampfer herausstellten.
In Dresden sah ich mir im barocken Zwinger Alte Meister an, riesige Gemälde, deren Existenz mir an jenem Tag ins kindliche Bewußtsein geriet, das so kindlich womöglich gar nicht mehr war, und die mir, doch alle Eindrücke des Tages hatten dies verursacht, in Fischbach Kopfschmerzen machten, die am späten Abend mit zwei Tabletten sediert wurden. Diese Bilder hatten mir gefallen; sie waren mir als erste aus der Welt der bildenden Kunst begegnet. An diesem Tag in Dresden hinterließen auch die Juwelenschätze im Grünen Gewölbe, von denen ja viele, die köstlichsten, zierlichsten, und ein ganzer Hofstaat dazu, vom Edelsteinschneider und -künstler Dinglinger geschaffen worden waren, der, aus Biberach stammend, am Hofe August des Starken in seine Lebensposition hineingewachsen war, ihren Schimmer in mir. Es glitzerte und glänzte und erzählte Geschichten aus den Vitrinen heraus ... Wieder an der von der Elbe erfrischten Luft, draußen vor dem „Italienischen Dörfchen“, kaufte ich ein Eis, das, wegen des Schokoladenüberzugs oder -anzugs über dem Vanillekörper, wie ein glatter brauner, nicht sehr dicker Bolzen am Stiel aussah. „Das ist die Semperoper“, sagte Tante Gerda und wies auf den geschwungenen Bau am Platz, sie ging oft in Konzerte und ins Theater.
Onkel Heinz bastelte manchmal am wuchtigen Fernsehgerät, das aus der Firma kam, in der er arbeitete, „Robotron“ in Radeberg, herum, verstellte, „HB“- oder „Stuyvesant“- oder „Astor“-Zigaretten zwischen die Lippen geklemmt, die Antennenrichtung, zwackte an irgendwelchen Eingeweiden des elektrischen Bildmachers, um in diesem Haus der ehemaligen Försterei bei Fischbach hinter Dresden auch „Westfernsehen“ in den Kasten zu bekommen, doch dem war höchst selten ein – griesliger – Erfolg beschieden. Hinter Dresden begann das „Tal der Ahnungslosen“, wie die DDR-Bevölkerung die Gegend nannten, denn überall im „Ländchen“, wie die Lyrikerin Sarah Kirsch später diesen Staat nennen sollte, war Westfernsehen, das aus dem Ersten Programm der ARD und dem Zweiten Deutschen Fernsehen, das erst kürzlich auf Sendung gegangen war, bestand, zu empfangen, nur zwischen Dresden und Görlitz nicht. Die Erwachsenen und wir Kinder sahen abends also „Ost“, aber ich weiß nur noch vom „Sandmännchen“ und vom „Pitiplatsch“, die in der Gute-Nacht-Sendung für die Kleinen ihre kurzen Abenteuer hatten. Diese Sendung sahen wir uns jeden Abend an; sie war ein Muß.
Solche Tage endeten noch vor meinem Geburtstag; wir fuhren zurück nach Oberschwaben. Am Tag vor der Abreise sahen meine Mutter und ich zu, daß wir unser Ostgeld noch los wurden, auch ich, denn meine Verwandtschaft hatte mir eigenes Taschengeld, und reichlich, zugesteckt, und wir kauften noch allerhand Geschnitztes aus dem Erzgebirge und Krimskrams, ich noch ein Buch oder zwei, und Süßigkeiten für die Reise. „Geh nicht so damit um“, hatte Mama mich während des Besuchs von 1970, als ich wieder viel Ostgeld in der Tasche hatte, gerügt, „sie müssen auch dafür arbeiten.“ Ich wußte es ja: Als Westler war ich sowieso schon unverhältnismäßig priviligiert, und dann hatte ich auch noch im Osten mehr Geld als im Westen. (Das 1970 auch für marxistische Theorie ausgegeben wurde, um im Westen sozialistische Verhältnisse herstellen zu können.) Mir ging’s im Osten immer gut. Zu zynisch? – Die Grenzkontrollen gerieten noch schärfer und ausgiebiger als auf der Einreise. In und unter den Waggons wurde jede Stelle, die ein Versteck hätte bieten können, abgesucht. Die Vopos drehten und wendeten die „Papiere“ in den Händen, als wollten sie nicht glauben, daß mit ihnen alles seine Ordnung habe. Fast widerwillig gaben sie die Dokumente zurück. Zwischen hohen Stacheldrahtverhauen, zwischen denen Grenzer mit Schäferhunden standen, verharrte der Zug wie eingefangen. Endlich spürten wir erleichtert, wie er sich wieder bewegte, wie die Eisenschlange wieder voran rutschte, voran glitt, dann geschmeidiger und schneller wurde, aus Probstzella, dem Ort, dem die Zellen schon eingeschrieben sind, entkam. (Ich fand den Namen auch deshalb eigentümlich, weil das „Probst“ mich an die Probststraße zuhause gemahnte. So gab dieser Ort beim Übergang in die andere Welt ein Zeichen des Abschieds aus der gewohnten, und bei der Heimkunft – und die ganze Bundesrepublik Deutschland hatte mit einem Mal so etwas Heimatliches an sich – eines der Begrüßung und der Vorfreude auf die vertrauten Pfade des Lindeles.) Abends kamen wir in Biberach an, Frau H. hatte einen Blumenstrauß auf den Coachtisch des Wohnzimmers gestellt und empfing uns herzlich.
- Sonnig, mild, nicht gar so heiß.
6.8.2002
In Dresden sah ich mir im barocken Zwinger Alte Meister an, riesige Gemälde, deren Existenz mir an jenem Tag ins kindliche Bewußtsein geriet, das so kindlich womöglich gar nicht mehr war, und die mir, doch alle Eindrücke des Tages hatten dies verursacht, in Fischbach Kopfschmerzen machten, die am späten Abend mit zwei Tabletten sediert wurden. Diese Bilder hatten mir gefallen; sie waren mir als erste aus der Welt der bildenden Kunst begegnet. An diesem Tag in Dresden hinterließen auch die Juwelenschätze im Grünen Gewölbe, von denen ja viele, die köstlichsten, zierlichsten, und ein ganzer Hofstaat dazu, vom Edelsteinschneider und -künstler Dinglinger geschaffen worden waren, der, aus Biberach stammend, am Hofe August des Starken in seine Lebensposition hineingewachsen war, ihren Schimmer in mir. Es glitzerte und glänzte und erzählte Geschichten aus den Vitrinen heraus ... Wieder an der von der Elbe erfrischten Luft, draußen vor dem „Italienischen Dörfchen“, kaufte ich ein Eis, das, wegen des Schokoladenüberzugs oder -anzugs über dem Vanillekörper, wie ein glatter brauner, nicht sehr dicker Bolzen am Stiel aussah. „Das ist die Semperoper“, sagte Tante Gerda und wies auf den geschwungenen Bau am Platz, sie ging oft in Konzerte und ins Theater.
Onkel Heinz bastelte manchmal am wuchtigen Fernsehgerät, das aus der Firma kam, in der er arbeitete, „Robotron“ in Radeberg, herum, verstellte, „HB“- oder „Stuyvesant“- oder „Astor“-Zigaretten zwischen die Lippen geklemmt, die Antennenrichtung, zwackte an irgendwelchen Eingeweiden des elektrischen Bildmachers, um in diesem Haus der ehemaligen Försterei bei Fischbach hinter Dresden auch „Westfernsehen“ in den Kasten zu bekommen, doch dem war höchst selten ein – griesliger – Erfolg beschieden. Hinter Dresden begann das „Tal der Ahnungslosen“, wie die DDR-Bevölkerung die Gegend nannten, denn überall im „Ländchen“, wie die Lyrikerin Sarah Kirsch später diesen Staat nennen sollte, war Westfernsehen, das aus dem Ersten Programm der ARD und dem Zweiten Deutschen Fernsehen, das erst kürzlich auf Sendung gegangen war, bestand, zu empfangen, nur zwischen Dresden und Görlitz nicht. Die Erwachsenen und wir Kinder sahen abends also „Ost“, aber ich weiß nur noch vom „Sandmännchen“ und vom „Pitiplatsch“, die in der Gute-Nacht-Sendung für die Kleinen ihre kurzen Abenteuer hatten. Diese Sendung sahen wir uns jeden Abend an; sie war ein Muß.
Solche Tage endeten noch vor meinem Geburtstag; wir fuhren zurück nach Oberschwaben. Am Tag vor der Abreise sahen meine Mutter und ich zu, daß wir unser Ostgeld noch los wurden, auch ich, denn meine Verwandtschaft hatte mir eigenes Taschengeld, und reichlich, zugesteckt, und wir kauften noch allerhand Geschnitztes aus dem Erzgebirge und Krimskrams, ich noch ein Buch oder zwei, und Süßigkeiten für die Reise. „Geh nicht so damit um“, hatte Mama mich während des Besuchs von 1970, als ich wieder viel Ostgeld in der Tasche hatte, gerügt, „sie müssen auch dafür arbeiten.“ Ich wußte es ja: Als Westler war ich sowieso schon unverhältnismäßig priviligiert, und dann hatte ich auch noch im Osten mehr Geld als im Westen. (Das 1970 auch für marxistische Theorie ausgegeben wurde, um im Westen sozialistische Verhältnisse herstellen zu können.) Mir ging’s im Osten immer gut. Zu zynisch? – Die Grenzkontrollen gerieten noch schärfer und ausgiebiger als auf der Einreise. In und unter den Waggons wurde jede Stelle, die ein Versteck hätte bieten können, abgesucht. Die Vopos drehten und wendeten die „Papiere“ in den Händen, als wollten sie nicht glauben, daß mit ihnen alles seine Ordnung habe. Fast widerwillig gaben sie die Dokumente zurück. Zwischen hohen Stacheldrahtverhauen, zwischen denen Grenzer mit Schäferhunden standen, verharrte der Zug wie eingefangen. Endlich spürten wir erleichtert, wie er sich wieder bewegte, wie die Eisenschlange wieder voran rutschte, voran glitt, dann geschmeidiger und schneller wurde, aus Probstzella, dem Ort, dem die Zellen schon eingeschrieben sind, entkam. (Ich fand den Namen auch deshalb eigentümlich, weil das „Probst“ mich an die Probststraße zuhause gemahnte. So gab dieser Ort beim Übergang in die andere Welt ein Zeichen des Abschieds aus der gewohnten, und bei der Heimkunft – und die ganze Bundesrepublik Deutschland hatte mit einem Mal so etwas Heimatliches an sich – eines der Begrüßung und der Vorfreude auf die vertrauten Pfade des Lindeles.) Abends kamen wir in Biberach an, Frau H. hatte einen Blumenstrauß auf den Coachtisch des Wohnzimmers gestellt und empfing uns herzlich.
- Sonnig, mild, nicht gar so heiß.
6.8.2002
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