4
Aug

4.8.2002

Dann sah ich sie zum ersten Mal: ein von hohen Stacheldrahtwänden eingezwängter Streifen Lands, der Todesstreifen, sank und hob sich zwischen die Felder, Wiesen, Wälder, hinab, hinauf in die Waldschneise, in der ich einen Wachturm entdeckte, mit einem eigenartig verkanteten Betondach, das wie ein Papierschnipsel zwischen dem dunklen Waldgrün dort oben schwebte. Das war sie also, die Mauer, die Grenze, die durch Deutschland verlief. Ich stand am geöffneten Fenster im Wagengang, Rußgeruch wehte von der Lokomotive heran, mir um die Nase; das Sonnenlicht brach sich an manchen Stellen des metallenen Doppel- und Dreifachzauns. Ich trat ins Abteil. Meine Mutter wurde schon etwas nervös, war es doch das erste Mal, daß wir durch die seit dem Mauerbau in Berlin im August 1961 verschärften Grenzkontrollen mußten. Als wir Ende der fünfziger Jahre nach Fischbach gefahren waren, hatte diese Grenze noch nicht existiert, nur auf dem Papier, auf den Landkarten, und in den Köpfen. Wie vordem wurden die Kontrollen im Zug durchgeführt. Der Zug nahte Probstzella, dem Grenzübergang, verlor an Geschwindigkeit, wurde langsamer. Meine Mutter legte ihren bundesdeutschen Personalausweis und die anderen Papiere, die zur Einreise in die Deutsche Demokratische Republik berechtigten, und meinen Kinderausweis zurecht. Auch die anderen Reisenden im Abteil nestelten in ihren Taschen. Plötzlich herrschte eine angespannte Atmosphäre. Der Zug hielt ächzend, kreischend. Baracken links und rechts der zwei Gleistrassen, Wachtürme, Soldaten in einer anderen Uniform mit Maschinenpistolen patroullierten entlang des Zuges; ich beobachtete es aus dem offenen Abteilfenster neugierig, bis meine Mutter in besorgtem Tonfall sagte, ich solle den Kopf nicht so hinausstrecken, solle mich setzen. Ich schob also das Fenster zu, setzte mich. Es dauerte dann auch nicht lange, bis die Vopos, die Volkspolizisten der DDR, zu zweit ins Abteil traten, einen Gruß schnarrten und die Papiere sehen und den Reisegrund wissen wollten. Dieser mußte zum Beispiel durch eine familiäre Einladung, die vom Rat der Stadt abgestempelt worden war, schriftlich nachgewiesen werden. Überaus gründlich wurden die Unterlagen geprüft, Blicke in die Gesichter der Sitzenden geschossen, die Papiere mit zackigen Arm- und Handbewegungen zurückgereicht. „Gudn Auffendhalt in dr DeDeÄrr!“, mit einem kräftigen Ruck wurde die Abteiltür geschlossen. Aufatmen. Erste spöttische Bemerkungen fielen, sehr leise, verstummten, denn nun fand der Zwangsumtausch der Währungen statt. Für jeden Tag Aufenthalt mußten schon an der Grenze soundsoviel DM in „Mark der DDR“ umgetauscht werden; eins zu eins, verstand sich. Die Schwarzmarktrate lag gewöhnlich bei eins zu fünf. Das wußte man, das tat man aber nicht, wenn man noch bei Sinnen war und nicht im Stasi-Knast verschwinden wollte; konnte man auch gar nicht, denn das noch (offiziell, denn wer trug was im Schuh hinein?) verbliebene Westgeld – das ja nach der Ausreise aus dem deutschen Sozialismus wieder benötigt wurde – mußte deklariert werden und wurde verzeichnet; wie schon Uljanov sagte: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Im Bauchladen der weiblichen Uniformierten verschwand unser gutes Westgeld, DDR-Geld, Scheine und verblüffend leichte Münzen, steckte meine Mutter in ihre Börse. Auch diese Devisenhändlerin verschwand, die Prozedur war überstanden. Das Gehabe der DDR-Grenzbeamten war doch etwas eigentümlich gewesen, wie wohl alle empfanden, dieser Tonfall war für uns Westler nicht eben alltäglich. Nach einer Weile, die schon lang zu werden drohte, ruckelte der Zug an, nahm Fahrt auf, schnaufte ins Vogtland hinein. Plauen wurde zurückgelassen, die sächsischen Städte zogen vorüber. Die Landschaften wurde industrieller, Halden entlang der Strecke, graue und braune Bauten; auf unerklärliche Weise, die vielleicht nur das Resultat eines Vorurteils war, schienen die Gegenden, durch die der Interzonenzug dampfte, einen kaum zu bemerkenden Grauschleier übergezogen zu haben. Der Bahnhof von Karl-Marx-Stadt (inzwischen wieder Chemnitz) war duster, verrußt. Weiter nach Dresden.
Im Dresdner Hauptbahnhof hievten wir unser Gepäck aus dem Zug, schleppten es unter einem schwarz geschwungenen Gewölbedach in die Halle, verließen in der Menge der Herein- und Hinauseilenden das Gebäude, sahen uns um, warteten, bis ein Wartburg-Taxi frei war, denn so viele waren da nicht. War der Platz vor dem Bahnhof weit und leer? Vor neunzehn Jahren erst war Dresden im Höllenfeuer der alliierten Bomben in Schutt und Asche und unter Leichenbergen versunken. Ich wußte das. Endlich war ein Taxi zu haben. „Nach Fischbach!“, wies meine Mutter den Chauffeur an. Der freute sich, eine längere Fahrt ergattert zu haben und begann zu plaudern. Natürlich über keine geheimdienstlich relevanten Dinge. Westler im Auto! Gab es in Fischbach überhaupt einen Bahnhof? Arnsdorf, der größere Ort dort in der Gegend, besaß einen, in ihm hatte meine Mutter nach dem Krieg für einige Zeit als Reichsbahnangestellte der sowjetisch besetzten Zone gearbeitet. Es war sinnvoller und bequemer, mit dem Auto zu fahren. Kiefernwälder beschatteten da und dort die nicht sehr breite Straße, auf der kaum ein Auto uns entgegen kam. Ich saß hinten und kannte die Strecke schon. Wir erreichten Fischbach. Die ehemalige Försterei, in der meine Verwandtschaft wohnte, lag rechts der Straße, wenn man aus Dresden kommend heranfuhr. Vor dem Einfahrtstor im umlaufenden Gemäuer hielt das Auto. Meine Mutter zog den Geldbeutel. Der ältere Chauffeur aber fragte etwas verlegen, ob wir vielleicht Westzigaretten hätten, ob er ein paar bekommen könne, statt des Geldes. Die seien doch viel besser als das Ostkraut. Meine Mutter bezahlte mit Ostgeld und kramte aus einer der Taschen eine der Zigarettenschachteln, die sie für die männliche Verwandtschaft nicht eben sparsam eingekauft hatte, hervor, „HB“ oder „Stuyvesant“, und reichte sie dem Fahrer. Er konnte sein Glück kaum fassen. „Westzigaretten hat ja unsereins nie in den Fingern!“ Wir stiegen aus, der Fahrer holte unser Gepäck aus dem Kofferraum, trug es vor den Eingang. Das Taxi wendete und wurde auf der Landstraße kleiner. Bestimmt, dachte ich, denn sofort hatte der Chauffeur die Packung aufgerissen, qualmt er es jetzt voll mit Westzigaretten.
- Heiteres Sommerwetter, das im Verlauf des Nachmittags in Eintrübung überging. Etwas Wind, der mit den Blättern spielte.
4.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
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