3
Aug

3.8.2002

Nachdem am Nachmittag in meinem tragbaren TV-Gerät kräftig gemosert worden ist, an die Eintragung von heute. – Dreizehn Jahre früher reiste ich mit meiner Mutter – reiste meine Mutter mit mir - nach Fischbach hinter Dresden in die DDR. Am Tag der Abreise erhielt Frau H. – der ich nun eine genauere Gestalt geben will: sie ist mittelgroß, hat ein eher breites Gesicht, lebhafte Augen, eine keineswegs große Nase und schmale Lippen, von denen eine lebhafte Rede in der Mundart des Landstrichs fließt, wie ich vor einem Monat wieder hörte; hellbraunes Haar umfaßte in ihren jüngeren Jahren den schwäbischen Kopf – die Wohnungsschlüssel, dann fuhren wir, die zwei schweren großen Koffer und verschiedene Taschen erforderten es, mit dem Taxi hinunter zum Bahnhof. Wenn es richtig ist, was ich hier angebe, dann mußte damals in Ulm nicht umgestiegen werden, der D-Zug (der „Interzonenzug“, wie die Bezeichnung aus der ersten Besatzungszeit nach dem Krieg noch lautete) – von einer schwarzen Dampflokomotive gezogen, deren Qualm während der ganzen Reise in zerfasernden dunklen Fahnen über der Landschaft vor die Sommersonne flatterte und sie in hin und wieder in flüchtiger Weise verfinsterte – rollte, nach kurzem Aufenthalt, weiter nach Günzburg und Richtung Nürnberg. Wir hatten es uns inzwischen im Zugabteil gemütlich gemacht, hatten, wie stets für solche Reisen, Fensterplätze reserviert, und die Stunden vergingen, indem ich aus dem Fenster auf die sich unablässig abwechselnden Erhebungen, Senken, Felder, Wälder, Bahnhöfe und Hinterhöfe entlang der Trasse blickte, und das charakteristische rhythmische Fahrgeräusch des Waggons – tadak, tadak... tadak – spielte die minimalistische und einschläfernde Musik dazu. Schließlich erreichten wir Nürnberg und stiegen aus. Ein Onkel Richard meiner Mutter und dessen Frau wohnten hier. Wir fuhren mit der Straßenbahn in die Nähe der Straße, wo das schon alte Paar wohnte, schleppten die letzte Wegstrecke Koffer und Taschen über die Bürgersteige, bis wir vor dem vier- oder fünfstöckigen Wohnblock standen und klingelten. Wir wurden empfangen, luden das Gepäck ab, erfrischten uns. Nach einer Erholungspause spazierten wir durch den sonnigen Abend, ich durfte den Dackel an der Leine führen. Noch später gingen meine Mutter und ich noch durch das nächtliche Nürnberg, sahen uns ein bißchen in dieser für uns großen Stadt um, kehrten mit der Straßenbahn zur Wohnung der Verwandtschaft zurück. Eine große Standuhr tickte in dem Zimmer, in dem ich in einem Bett lag und auch bald einschlummerte. Am nächsten Vormittag nahmen wir das Gepäck auf, Tante, Onkel und Hund begleiteten uns zum Hauptbahnhof. Mit urweltlichem Fauchen und rußigem Rauch rollte wieder eine mächtige schwarzmetallene Lok auf den matt schimmernden Gleisen an den Bahnsteig heran, der Zug hielt, mit unserer Last erklommen wir die schmale Waggonstiege, quetschten uns durch die Tür, kämpften uns zu unserem Abteil vor. Ein letztes Winken aus dem heruntergezogenen Oberteil des Fensters zu den Verwandten, der Zug fuhr an, hinaus aus der Halle. Der zweite mehrstündige Teil der Reise begann. Die Stunden verstrichen. Meine Mutter packte Proviant aus. Ich stand lange an einem der Gangfenster und sah hinaus. Nach Hof wuchs die Spannung. Der Zug wand sich durch die Vorgebirgslandschaft, der Grenze entgegen.
- Hoher Sommer, heiß, kaum eine Wolke unter der Bläue.
3.8.2002
Klaus-Dieter Diedrich (1951-2006): "Die Biberacher Zeit"

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Als Biberacher, der K.D. kannte und als bekennender...
Tadellöser - 20. Dez, 13:02

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